Die Geschichte vom Traum eines selbstständigen ‚Azawad‘
Am 17. Januar 2012 begann mit dem bewaffneten Angriff auf die nordmalische Stadt Menaka ein neuer Aufstand der ‚Tuareg Rebellen‘. Bestens ausgerüstet mit Waffen aus Beständen der ehemaligen Armeeeinheiten Gaddafis überrannten an die 3000 Aufständische binnen zweieinhalb Monaten die militärischen Stellungen Malis, obwohl das Regime in Bamako noch in den Wochen zuvor in großem Umfang Truppen in das Aufstandsgebiet verlegt hatte. Mit der Einnahme Timbuktus am 1. April beherrschen die Rebellen nun die drei nördlichen Regionen, die zwei Drittel des malischen Territoriums umfassen und in denen neun Prozent der Gesamtbevölkerung leben.
Das säkular ausgerichtete Mouvement national de libération de l’Azawad (MNLA) und die fundamental-islamische Gruppe Ancar Dine (Verteidigung des Islam) hatten anfangs als Bündnis die Rebellion gestartet, sich dann aber auf einem Treffen Mitte März wegen massiver politischer Differenzen gespalten. Die MNLA hatte Ancar Dine aufgefordert, die Zusammenarbeit mit Al Quaida au Maghreb islamique (AQIM) einzustellen und von ihrem Vorhaben, ganz Mali islamisieren zu wollen, Abstand zu nehmen. Die Weigerung der Islamisten, darauf einzugehen, führte zum Bruch. Während die MNLA am 6. April den unabhängigen Staat Azawad ausrief und mit der Versicherung, nicht weiter nach Süden in Richtung Hauptstadt Bamako vorrücken zu wollen, den Waffengang für beendet erklärte, ließ Ancar Dine das Gegenteil verlauten. Für sie sei der Kampf erst dann beendet, wenn die Sharia für das gesamte Land gelte.
Im südlichen Mali mit der Hauptstadt Bamako führte der Aufstand zu einem erbitterten Machtkampf zwischen loyal zum ehemaligen Präsidenten Touré stehenden Armeeeinheiten auf der einen und einer Gruppe von Jungoffizieren um den Hauptmann Sanogo auf der anderen Seite. Die Militärs um Sanogo setzten am 22. März mit einem Putsch den amtierenden Präsidenten ab, weil sie ihm Unfähigkeit im Kampf gegen die Rebellion vorwarfen. Bedrängt von den Strafmassnahmen der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (Cédéao) einigten sich die Putschisten mit einer Delegation der Wirtschaftsgemeinschaft am 9. April darauf, als Gegenleistung für die Rücknahme der Sanktionen straffrei wieder in die Kasernen zurückzugehen und die Macht bis zur Abhaltung von Neuwahlen einem Interimspräsidenten zu überlassen. Doch hinter den Kulissen festigte die Junta ihre Macht. Mitte April ließ sie zahlreiche politische und militärische Stützen des alten Regimes – darunter auch zwei Kandidaten für die vereinbarten Präsidentschaftswahlen – ohne Angabe von Gründen verhaften. Der Versuch der Präsidentengarde des abgesetzten Touré, im Vorgriff auf zu erwartende Festnahmen einiger ihrer Kommandanten am 30. April einen bewaffneten Gegenputsch zu starten, wurde von der Junta einen Tag später gewaltsam niedergeschlagen. Bei diesen Auseinandersetzungen wurden 22 Personen getötet und viele verletzt.
Mittlerweile herrscht in Bamako eine Art Ausnahmezustand. Die Verhaftungen von Funktionären des alten Regimes laufen verschärft weiter, wobei der Aufenthaltsort vieler Festgenommener unbekannt bleibt. Nachts prägen Straßensperren und zahllose Kontrollpunkte das Bild der Stadt. So beherrschen die Militärs um Sanogo zwar den Süden Malis mit seiner Hauptstadt, sind aber angesichts einer sowieso schon dramatisch schlecht ausgerüsteten Armee nun aufgrund des internen Machtkampfes noch viel weniger in der Lage, die Rebellion im Norden ohne Hilfe von außen aufzuhalten.
Aber auch im Norden bleibt gut einen Monat nach Ausrufung des unabhängigen Azawad durch die MNLA die Situation angespannt. Neben Ancar Dine sind weitere bewaffnete Einheiten verschiedener islamistischer Gruppen in die Region eingesickert. Die Versorgungslage für die Bevölkerung ist prekär und Human Rights Watch wirft allen dort kämpfendenden Organisationen verschiedene Menschenrechtsverletzungen wie Vergewaltigungen, Plünderungen von Krankenhäusern, Schulen, Kirchen und anderen öffentlichen Gebäuden sowie den Einsatz von Kindersoldaten vor. Laut Angaben der UNO wurden so seit Januar 320 000 Bewohner_innen aus dem Gebiet vertrieben, wovon 187 000 Personen in die Nachbarländer flohen.
Mit einer Kollage von Teilen aus verschiedenen Zeitungsartikeln und einem Buchbeitrag versuchen wir, den Hintergründen dieser Rebellion auf die Spur zu kommen. Der Ausschnitt aus dem NZZ-Artikel Alt-neuer Wunsch nach Selbstbestimmung beschreibt das prekäre und auf ständige Migration basierende Leben der Tuareg-Gesellschaften in der Sahara Region. Mit dem Buchbeitrag Gaddafis Instrumentalisierung der Tuareg wirft Ines Kohl ein Blick auf die Situation der Tuareg im Libyen unter Gaddafi. Denn nicht wenige dienten in seinen Kampfeinheiten, um sich nach seinem Sturz, entsprechend gut bewaffnet, der Rebellion im Norden Malis anzuschließen. Charlotte Wiedemann befasst sich in dem Artikel Bilals Fömmigkeit aus der Le Monde diplomatique mit dem Verhältnis von Rassismus und Sklaverei sowie der Rolle, die der Islam dabei spielte. Nicht zufällig landet sie dabei in Timbuktu, dem Ort, wo sich die älteste Bibliothek des subsaharischen Afrika befindet und wo jetzt der Vormarsch der Rebellen endete. Es ist die Region, wo ’schwarze‘ Bevölkerung und Tuareg-Gemeinschaften mit ihrer Geschichte als Sklaven und deren Händler aufeinanderstoßen, was sich bis heute in der Beziehung der ’schwarzen‘ Mehrheitsgesellschaft zu den Tuareg-Minderheiten gerade in Mali und im benachbarten Niger niederschlägt.
Alt-neuer Wunsch nach Selbstbestimmung
„Wirtschaftliche Anliegen stehen noch immer im Zentrum der Forderungen, aber sie werden negativ als Beendigung von Diskriminierung geäussert – als Mangel an Strassen, Spitälern und Schulen. Der Analphabetismus liegt im Norden Nigers und Malis bei 50 Prozent. Bei einem Besuch im nigrischen Agadez vor einem halben Jahr klagten Tuareg-Vertreter, dass ihnen wegen fehlender Ausbildungsmöglichkeiten zu wenig Arbeitsplätze in den Uranminen bei Arlit zufielen. Sie lebten mit den Schäden an Gesundheit und Umwelt, ohne Nutzen von den Bergwerken zu haben, hiess es. Tuareg sehen sich auch im Süden des Azawad bedrängt, wo Landprivatisierungen und die Einzäunung der Ranches die Lebensgrundlage der Viehzüchter beschneiden.
In Timbuktu und Agadez, zwei Tourismuszentren, denen als Folge des Terrorismus der Qaïda au Maghreb islamique (Aqmi) die Besucher ausgehen, fühlen sich die Bewohner von den Regierungen im Stich gelassen. Es beklagen sich sowohl Tuareg, die in jenen Städten eine Minderheit bilden, als auch Zugewanderte.
Die Tuareg sprechen selten mit einer Stimme. Eine deutliche Mehrheit lehnt den Terrorismus von Aqmi ab – was nicht ausschliesst, dass Rebellen und Schmuggler unter ihnen bei Bedarf gemeinsame Sache mit den Extremisten machen. Als moderne Nomaden haben viele Tuareg Algerien und Libyen bereist. Sie vergleichen die Zustände dort gerne mit der Heimat und kommen zu einem zornigen Fazit. Libyen (unter Ghadhafi) sei für seinesgleichen ein Paradies, schwärmte – völlig unzutreffend – vor sechs Monaten der Koch, Bijoutier und Tuareg Mohammed Ahmed in Agadez. Er verglich die Kosten für Strom und Diesel, die in Libyen zehnmal billiger seien als in Niger, und liess geflissentlich aus, dass Libyen (wie auch Algerien) über grosse Öl- und Gasvorkommen verfügt.
Aber mit einer jüngeren Generation nahmen die Klagen und Bestrebungen neue Formen an, die nur wenig mit dem romantisierten Bild von Kamelreitern zu tun haben. In den siebziger und achtziger Jahren erfuhren die Tuareg-Gesellschaften einen radikalen Wandel. In den Dürrekatastrophen von 1973/74 und 1984 wurden 80 Prozent der Herden zerstört, bei Kamelen mit einer Reproduktionszeit von zwei Jahren ein immenser Verlust. Tuareg wurden in Scharen in die Diaspora gezwungen und bildeten in Libyen, Algerien, Frankreich, aber auch in westafrikanischen Küstenstädten wie Lagos und Abidjan eine soziale Randschicht von Migranten.
Es entstand eine Kultur, die «Teshumara» genannt wird (von französisch «chômage», Arbeitslosigkeit). Sie benennt im Alltag und in Formen städtischer Kultur Symbole der Entfremdung wie moderne westliche Kleidung anstelle von Kaftan und Sandalen, Wohnungen und Wände statt luftiger Zelte, Abkehr vom traditionellen Speisezettel, der aus Fleisch und Milch bestanden hatte und nur gelegentlich durch Käse ersetzt und mit Datteln und Früchten ergänzt wurde. Teshumara kultiviert die Andersartigkeit. Intellektuelle, die in Europa studiert hatten, fügten der Subkultur Inhalte wie das Recht auf Selbstbestimmung bei. Ein eigener Staat wird als heilbringende Lösung angesehen, im Unterschied zum älteren Nationalismus, der als Gemeinschaft der Sippen und Stämme der Tuareg verstanden wurde.
Das MNLA und ihm nahestehende Websites wie Toumastpress.com schweigen Meinungsverschiedenheiten unter den Tuareg tot, aber diese sind vielfältiger Art. Die Tuareg bilden eine hierarchische Gesellschaft. An ihrer Spitze stehen nach dem Empfinden mancher die Berabish oder «Araber». Sie sind Nachkommen von Berbern, die schon im 8. Jahrhundert islamisiert worden waren und im Unterschied zu anderen Gruppen, die unter dem Druck arabischer Eroberungen früher nach Süden ausgewichen waren, zunächst in den Berber-Gebieten am Nordrand der Sahara blieben. Sie zogen einige Jahrhunderte später nach und waren Salzhändler oder begründeten in Timbuktu berühmte Gelehrtenfamilien. Die breite Unterschicht wird von «Bellah» gebildet, dunkelhäutigen ehemaligen Sklaven. Unter nördlichen Stämmen wie den Ifoghas im Adagh beteiligten sich die Bellah an aufeinander folgenden Tuareg-Rebellionen, weiter südlich lehnten sie diese ab.“
Haefliger, Markus: Alt-neuer Wunsch nach Selbstbestimmung.
Malis Rebellen streben nach einem eigenen Staat für die Tuareg. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 79 vom 03.04.2012, S. 5
Ghaddafis Instrumentalisierung der Tuareg
„Im September 1980 richtete Gaddafi einen ersten feierlichen Appell an alle Tuareg, sich in Libyen (er sprach von „ihrem Land“ ) aufgenommen zu fühlen. Libyen wurde auch in den darauffolgenden Jahren von ihm stets als das Land der Tuareg, als ihr „Ursprung“ und ihre Heimat bezeichnet, oftmals sehr zum Unmut der libyschen Bevölkerung. In den 1980ern ließen sich viele Tuareg-Männer von seinen Versprechen mitreißen, zogen nach Libyen und gliederten sich in die libysche Armee ein. Dort kämpften sie jedoch nicht für eine vereinigte Sahara, sondern gegen Libyens politische Widersacher. Zehntausende Tuareg fanden sich an allen Fronten wieder: im Tschadkrieg, im Westsaharakonflikt oder im Libanon aufseiten Palästinas.
Gleichzeitig begann eine Migrationswelle nigrischer und malischer Tuareg nach Libyen. Kamen zunächst meist nur junge Männer, so änderte sich das in den Jahren der großen Trockenheit im Sahel, von 1984 bis 1986. Ganzen Nomadenlagern wurde durch die Dürren die Existenz entzogen. Der Nomadismus, als vorrangige Wirtschaftsform der Tuareg in Mali und Niger, brach in diesen Jahren zusammen und vielen blieb nur der Weg nach Algerien oder nach Libyen. Während die Männer in Gaddafis Armee dienten, siedelten sich deren Familien im Süden Libyens, in Ghat, Ubari und Sebha, an. (…)
Papiere zum legalen Aufenthalt gab es für Tuareg in Libyen immer wieder in unregelmäßigen Abständen, mit unterschiedlichen Zeitspannen. 2005 fand eine letzte große staatliche Integration der Tuareg statt, der Tausende folgten. Viele malische und nigrische Tuareg kamen damals nach Libyen, deponierten ihr Dossier, holten sich nach wenigen Wochen ihren Ausweis ab und kehrten in ihre Heimat zurück. Ein Großteil der Tuareg bewegt sich transnational, hat multiple Wohnsitze und dementsprechend multiple nationale Identitäten, oft mit unterschiedlichen Namen und variierenden Geburtsdaten. Je nach Bedarf wird das jeweilige Dokument eingesetzt. Für viele Tuareg ist Libyen das „Europa der Armen“, in dem es sich im Vergleich zu Niger und Mali sehr gut leben lässt, wenn man sich mit Gaddafis eigenwilliger Politik arrangiert. Der Besitz libyscher Papiere ist eine Art Versicherung für den Ernstfall, sollten sich die politischen und ökologischen Bedingungen in Mali und Niger weiter verschlechtern.
Gaddafis positive Gesinnung gegenüber den Tuareg bewies er einmal mehr am 24. April 2005, als er eine Delegation nigrischer und malischer Tuareg in Ubari empfing. In seiner Ansprache bezeichnete er die Tuareg als eine Nation mit historischer Dimension, deren Schwächung und Beherrschung nur durch Libyens Septemberrevolution vereitelt wurde. „Libyen ist das Land der Tuareg, ihre Basis und ihre Unterstützung“, erläuterte Gaddafi und setzte fort, dass die alten arabisch- libyschen Stämme nach Algerien, Mali und Niger gelenkt wurden und später auch Mauretanien und Burkina Faso erreichten, Länder, die „eine Verlängerung Libyens“ darstellen würden. Daher, so Gaddafi, werde Libyen die Tuareg stets unterstützen und es keinem erlauben, sich an ihnen zu vergreifen, denn sie seien die „Verteidiger der Sahara, Nordafrikas, des Islam und dieser strategischen Zone“. Zu diesem Anlass wurde in Ubari ein großes Fest veranstaltet, bei dem auch einer der bekanntesten Tuareg-Gitarristen ein Konzert gab. (…)
„Wir sind arm. Im Niger haben wir keine Chance unser nomadische Leben weiterzuführen, deshalb gehen wir. Aber wir wissen nicht, wie wir nach Europa gelangen können. Es ist nicht so, dass wir nicht nach Europa wollten, nein, wir wollen! Aber anders als jene Subsaharier, die übers Meer gehen, haben wir Angst vor dem Tod. Deshalb gehen wir nach Libyen. Libyen ist das Europa der Armen, Libyen ist das Europa der Tuareg.“ (Zitat eines Targi).
Schon in den 1980er Jahren betrachteten die Tuareg Libyen als ein Paradies auf Erden, ein Eldorado, und Gaddafi als den Retter der Armen und Unterdrückten. Diese positive Meinung von Libyen und Gaddafi veränderte sich über die Jahre kaum, obwohl die Tuareg keine wirkliche Unterstützung in ihrem Kampf für politische Mitsprache bekamen, sondern lediglich für Gaddafis eigene Interessen instrumentalisiert wurden.
Doch die allgemeinen Lebensbedingungen in Gaddafis Libyen waren gut, sah man von den Einschränkungen der persönlichen Freiheiten ab. Auch die nigrischen und malischen Tuareg, die sich in Liyen niederließen, konnten vom Sozialsystem profitieren, das kostenlosen Schulbesuch, kostenlose Gesundheitsversorgung, subventionierte Nahrungsmittel und geförderte Sozialwohnungen bereitstellte. (…)
Gaddafis Tuareg-freundliche Doktrin und die besseren Verdienstmöglichkeiten trugen dazu bei, dass sich in den letzten Jahren mehr und mehr nigrische und malische Tuareg in Libyen niedergelassen haben. Die Städte Ghat, Ubari und Sebha gewannen neue Bewohner, die jedoch in eigenen Vierteln wohnen und sich kaum unter die libysche Bevölkerung mischen. Denn die Beziehungen zwischen der libyschen Bevölkerung und den Tuareg-Migranten sind ambivalent und durch gegenseitige Stereotypisierungen geprägt.
Konservative Libyer, die 42 Jahre lang durch Gaddafis arabisch-islamische nationalistische Ideologie geprägt wurden, stehen dabei den zumeist liberalen Tuareg gegenüber. Aufgrund unterschiedlicher Auffassungen von Moral und Anstand stoßen beide Gruppen an die Grenzen ihrer gegenseitigen Akzeptanz und Toleranz. Die Libyer meiden die Migranten und stufen sie als nationalstaatliche Fremde ein. Die Isolation der zugewanderten Tuareg ist das Ergebnis dieser Verhältnisse. Aus ihrer schwachen Ausgangslage heraus müssen sie sich mit den herrschenden Strukturen in Libyen arrangieren, um sich Partizipationsmöglichkeiten zu sichern. (…)
In Gaddafis Kampf gegen die Aufständischen spielten auch die Tuareg eine wesentliche Rolle, und zwar nicht nur jene, die traditionell auf libyschen Staatsgebiet leben (Kel Azjer), sondern auch nigrische und malische Tuareg. Doch während sich Vertreter der libyschen Tuareg dem Aufruf der Warfalla und anderer Stammesgruppierungen anschlossen, um Gaddafis Rücktritt und ein Ende der Gewalt zu fordern, nahmen nigrische und malische Tuareg aktiv an der Seite Gaddafis an den Kämpfen teil. Die westlichen Medien überstürzten sich mit den Meldungen der angeheuerten afrikanischen Söldner, die mit angeblich großen Summen Geld geködert wurden.
Im Fall der Tuareg muss dabei differenziert werden. Zum einen kann man den Großteil der von Gaddafi rekrutierten Männer nicht als Söldner bezeichnen. Sie alle dienten jahrelang in der libyschen Armee und besitzen libysche Papiere. Doch dies hält sie nicht davon ab, ihr transnationales Leben weiterzuführen, und sich in unregelmäßigen Abständen zwischen Libyen, Algerien, Mali und Niger zu bewegen, um dadurch neue Lebens- und Überlebensstrategien zu entwickeln. Zum anderen wurde ein Großteil der Tuareg bei weitem nicht so gut bezahlt, wie es die Medienpropaganda behauptete.“
Kohl, Ines: Ghaddafis Instrumentalisierung der Tuareg. Von Rebellen, Banditen und Söldnern. In: F. Edlinger (Hg.): Libyen. Hintergründe, Analysen, Berichte. Wien 2011, S.71-86
Bilal’s Frömmigkeit
„Es widerstreiten im Islam im Hinblick auf die Sklaverei zwei Prinzipien: die Gleichheit aller vor Gott inklusive des Gebots, sich nur ihm zu unterwerfen, und der Glaube an eine gottgewollte Ungleichheit der Menschen untereinander. Das erste Prinzip gilt als Basis des Antirassismus, das zweite legitimiert Klassen und Hierarchien.
Nicht Rassismus hat im islamischen Kulturraum die Sklaverei stimuliert, eher war es umgekehrt: Aus dem Einsatz bestimmter Ethnien für bestimmte Tätigkeiten wurden im Laufe der Zeit Zuschreibungen. Arbeiten, die als niedrig galten, wurden von schwarzen Sklaven verrichtet. Irgendwann war „abd“ (Arabisch für Sklave, Diener) ein Synonym für schwarz. Und die Gesellschaften der islamischen Kernländer begannen einen Unterschied zu kultivieren zwischen hellhäutigen Gläubigen, also Arabern, Türken, Persern, und dunkelhäutigen Gläubigen afrikanischer Herkunft.
Timbuktu, im Osten Malis. Das Institut, das die älteste Bibliothek südlich der Sahara verwahrt, 30 000 Manuskripte in arabischer Schrift, ist nach Ahmed Baba benannt, dem berühmtesten Philosophen der Stadt. Die Leute in Timbuktu weisen mit Stolz darauf hin, dass dieser muslimische Gelehrte schon im 17. Jahrhundert sagte: Es gibt keinen Unterschied zwischen schwarz und weiß. Hier endet die Erzählung – doch tatsächlich ist der Fall Ahmed Baba komplizierter und geradezu tragisch.
Als der schwarze Philosoph 1614 schrieb: „Der Grund für Sklaverei ist Unglaube“, war es bereits üblich, Afrikaner ungeachtet ihres Glaubens zu jagen. Verzweifelt hielt er dagegen: Nicht schwarz sein, sondern Nichtmuslim sein, das prädestiniert zum Sklaven! Der Philosoph verabscheute die zunehmende Willkür; er selbst wurde, als die Marokkaner Timbuktu eroberten, in Ketten nach Marrakesch verschleppt. Aber Unrecht war für ihn eben nur die Versklavung von Muslimen: „Wer auch immer als Ungläubiger gefangen genommen wird, darf legal in Besitz genommen werden.“ Im 18. und 19. Jahrhundert bedienten sich afrikanisch-muslimische Führer dieser Rechtfertigung bei ihren Kriegszügen. Das Gesicht der Täter war längst nicht mehr allein arabisch.
Es ist heute in Mode gekommen, die Islamisierung Afrikas als ein Werk der Zerstörung zu betrachten, als gewaltsames Ausmerzen indigener Kultur. Die religiöse Rechtfertigung von Sklaverei scheint diese Sicht zu bestätigen. Wenn dies die ganze Wahrheit wäre, hätte es allerdings einen Ort wie Timbuktu nie gegeben. Als Zentrum der Gelehrsamkeit stand Timbuktu für eine afrikanische Hochkultur arabischer Sprache. Arabisch spielte in Teilen Afrikas eine ähnliche Rolle
wie Latein im europäischen Mittelalter, war über Jahrhunderte eine Schriftsprache der Eliten. (Um diesen Aspekt afrikanischer Geschichte zu würdigen, hat Südafrika unlängst einen Neubau des Ahmed-Baba-Instituts finanziert.) An der ostafrikanischen Küste entstand unter arabischem Einfluss die gebildete, weltoffene Händlergesellschaft der Suaheli. Kisuaheli ist heute die am weitesten verbreitete afrikanische Sprache; jedes vierte Wort darin ist arabischen Ursprungs.
Zurück nach Timbuktu: Dieser multiethnische Ort zeigt in mehr als einer Hinsicht, wie komplex die afrikanisch-islamische Geschichte ist. Westliche Touristen schenken nur einer einzigen Gruppe Beachtung: den Tuareg, genauer gesagt, deren hellhäutiger Oberklasse. In einer ärmlichen Koranschule sitzen auf dem blanken Boden schwarze Jungen und Mädchen, die gleichfalls Tamaschek sprechen, die Sprache der Tuareg. Die Kinder sind die Nachkommen von schwarzen Tuaregsklaven, Bella genannt. Erst seit etwa fünfzig Jahren sind die Bella formell frei. In Timbuktu, wo sie so zahlreich sind, ist die Bezeichnung Bella nicht ehrenrührig; in der Hauptstadt Bamako dagegen, zwei Tagesreisen entfernt, wird es leicht als beleidigend empfunden, jemanden derart an seine Herkunft zu erinnern. Viele Malier werfen den Tuareg vor, ihren Dünkel gegenüber Schwarzen nie abgelegt zu haben. In einer oft erzählten Anekdote stoppt ein Tuareg in Timbuktu den Dienstwagen eines Ministers mit den Worten: „Du bist mein Sklave. Gib mir das Auto.“
Wiedemann, Charlotte: Bilals Frömmigkeit. Islam, arabische Kultur und Sklavenhandel. In: Le Monde diplomatique, Nr. 9700 vom 13.01.2012, S. 12-13