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Prekäre Lebensbedingungen in Sondela

Mangelnde staatliche Dienstleistungen verstärken die Streikbereitschaft südafrikanischer Minenarbeiter

Beim Platinproduzenten des südafrikanischen Bergbaukonzerns Anglo American dauert der Arbeitskampf nun schon seit Wochen an. Viele der entlassenen Minenarbeiter leben in einer Bretterbudensiedlung unter erbärmlichen Umständen.

Die staubige Hauptstrasse von Sondela erinnert an ein Kriegsgebiet. 17 kniehohe Barrikaden aus Felsbrocken haben die Bewohner des Slums im Abstand von 30 Metern errichtet. Sogar ein Graben wurde ausgehoben, um die Polizei daran zu hindern, in der Siedlung zu patrouillieren. Die Grundschule, ein grosser, massiver Steinbau inmitten verfallener Hütten, bleibt seit Wochen geschlossen. In einem zerstörten Supermarkt suchen ein paar Ziegen nach Resten, die Plünderer übrig gelassen haben.

Misstrauen und Hass

Sondela hat rund 7000 Einwohner. Die meisten Männer arbeiten in der nur wenige hundert Meter Fussweg entfernten Platinmine von Anglo American Platinum (Amplats). Vor acht Wochen waren die Arbeiter in einen ungesetzlichen Ausstand getreten. Der Konzern drohte den Streikenden zunächst mit der Kündigung, dann entliess er 12 000 Arbeiter tatsächlich. Letzte Woche bot er ihnen eine Rücknahme der Entlassung für den Fall an, dass sie bis Dienstag an ihre Arbeitsplätze zurückkehren würden. Umsonst. Nach wie vor fehlten Arbeiter, um die Produktion wiederaufzunehmen, teilte der Konzern am Freitag mit.

Der ebenfalls im südafrikanischen Platingürtel produzierende Bergbaukonzern Lonmin hatte den wilden Streik seiner Mineure mit einer kräftigen Lohnerhöhung von nahezu 22 Prozent beigelegt. Dies trug dazu bei, dass sich wilde Streiks ausbreiteten und seit August rund 100 000 Arbeiter in ungesetzliche Ausstände traten. Laut Gareth Newham vom Institute for Security Studies in Pretoria ist dies für das demokratische Südafrika etwas Neues. Südafrika erlebe erstmals seit 1994 im grossen Stil Arbeitskämpfe ausserhalb des etablierten gewerkschaftlichen und arbeitsrechtlichen Rahmens.

Das Misstrauen gegenüber der etablierten Gewerkschaft National Union of Mineworkers (NUM) hatte so stark zugenommen, dass es in offenen Hass mündete. Viele Bergarbeiter werfen den Funktionären der NUM vor, von den Bergbaukonzernen bestochen worden zu sein und deren Angebote einfach durchzuwinken. Funktionäre der NUM bekommen den Hass am eigenen Leib zu spüren. 27 Gewerkschafter wurden in den vergangenen Monaten getötet.

Die Polizei beobachtet

Jeden Morgen versammeln sich in Sondela streikende Bergarbeiter auf einer Wiese vor einem Arbeiterwohnheim, um den Ausstand zu besprechen und zu organisieren. In 200 Meter Entfernung stehen sechs gepanzerte Fahrzeuge der Polizei, einige haben die Scheinwerfer an. Doch die 4000 Männer bilden einen Kreis, in deren Mitte die vier Verhandlungsführer berichten. Einer trägt eine Mütze der Association of Mineworkers and Construction Union (Amcu), der aufstrebenden Gewerkschaft, die in den letzten Monaten mit ihren extremen Lohnforderungen Zehntausende von neuen Mitgliedern rekrutieren konnte. Die dem regierenden African National Congress nahestehende NUM betrachtet die Amcu als hauptverantwortlich für die vielen Konflikte im südafrikanischen Bergbau. Doch die drei anderen Verhandlungsführer, die in Sondela mit den Streikenden beraten, betonen, dass sie keiner Gewerkschaft angehörten, sondern von den Ortsansässigen bestimmt worden seien. Die Streiks werden oft von Repräsentanten der Bergbausiedlungen vorangetrieben. Dies erschwert die Ausgangslage für Verhandlungen vor allem aufseiten der Unternehmen.

Ein Mann mit Rasta-Haarschnitt berichtet, dass der Konzern die Forderung von 16 000 Rand Monatsgehalt brutto (1718 Franken) weiter ablehne (für die meisten wäre dies eine Verdoppelung des bisherigen Lohns). Stattdessen biete das Unternehmen weiterhin nur die Wiedereinstellung an, verbunden mit einer geringen Einmalzahlung und einer leicht erhöhten Entschädigung für den Transport zur Arbeit. «Niemals!», rufen Dutzende. Befürworter werden niedergeschrien. Einer der Streikführer schärft den Männern ein, das Arbeiterwohnheim auf keinen Fall zu räumen. Die angeordnete Räumung werde nicht geschehen, eher schon werde man das Gebäude in Trümmer legen, droht er.

Ortsfremde als Wächter

Mit der Androhung von Massenentlassungen und dem Angebot einmaliger Zahlungen wurden die meisten Streiks im Goldbergbau in den vergangenen Wochen beendet. Bei Amplats scheint das nicht zu funktionieren. Auch bei anderen Platinminen bleibt die Situation angespannt. Am Dienstag patrouillierten rund 20 bewaffnete Mitarbeiter der privaten Sicherheitsfirma Fidelity auf dem Gelände der Chrom-Mine des Xstrata-Konzerns. Sie seien mit Bussen aus anderen Provinzen nach Rustenberg gelangt, erzählten sie. Wächter aus der Gegend von Rustenberg könnten diesen Job nicht übernehmen, denn sie würden den Zorn ihrer streikenden Nachbarn auf sich ziehen. Das wäre lebensgefährlich. Xstrata entliess am Donnerstag 400 streikende Arbeiter.

Der durch die Streiks entstandene Schaden für die Wirtschaft ist gewaltig. Dem südafrikanischen Bergbau droht ein Reputationsverlust, ausländische Investoren gehen auf Distanz. Die Rating-Agenturen Standard & Poor’s und Moody’s haben die Bonität südafrikanischer Staatsanleihen mit der Begründung, das Land leide an politischer Führungsschwäche und unter den Folgekosten der Streiks im Bergbau, herabgestuft. Finanzminister Gordhan korrigierte die Wachstumsprognose für dieses Jahr nach unten.

Das Geld geht zur Neige

Auch die Zahl der gewaltsamen Proteste wegen schlechter oder mangelnder staatlicher Dienstleistungen hat in letzter Zeit stark zugenommen. Nicht wenige Arbeitskämpfe wurzeln in den miserablen Lebensumständen der Arbeiter. Laut Gareth Newham reagiert der Staat, statt die Lebensumstände der Arbeiter zu verbessern, auf die Streiks oft reflexartig mit dem Einsatz der Polizei. Die schlecht ausgebildeten Polizisten würden als Staatsvertreter wahrgenommen und bekämen dann die in Aggression umschlagende Enttäuschung der Streikenden zu spüren.

Das lässt sich zurzeit in Sondela beobachten. Eine Frau hält ihr Kind auf dem Arm, dessen Augen verquollen sind. Am Vortag habe die Polizei von einem Helikopter aus Tränengasgranaten abgeworfen, ihr Kind habe sich davon noch nicht erholt. Eine andere deutet verschämt auf ihren Rock. Ein Gummigeschoss habe sie am Hinterteil getroffen. Die Slumbewohner litten, das Geld für die Lebensmittelbeschaffung werde knapp. Dennoch unterstützen die Frauen den Streik.

Die Lebensumstände in Sondela sind selbst im Vergleich zu anderen südafrikanischen Slums schlecht. Der Ort grenzt unmittelbar an eine Müllkippe, die neben einer Abraumhalde angelegt worden ist. Bis tief in die Nacht hinein suchen hier Slumbewohner nach Brauchbarem. Ein Lastwagen nach dem anderen liefert Abfälle an, die dann von Bulldozern verteilt werden. Wer hier hause, lebe im Dreck, sagen die Leute in Sondela. Unter und über Tage.

Putsch, Christian: Prekäre Lebensbedingungen in Sondela. Mangelnde staatliche Dienstleistungen verstärken die Streikbereitschaft südafrikanischer Minenarbeiter. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 258 vom 05.11.2012, S. 5