Eine Gruppe von Journalisten hat untersucht, wie viele Migranten seit 2000 auf dem Weg nach Europa umgekommen sind. Es sind deutlich mehr als bisher angenommen.
Erst wenn ein grosses Unglück passiert, richtet sich die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit auf die Not der Migranten. So wie im Februar dieses Jahres, als mindestens 15 Personen ertranken. Sie wollten schwimmend die spanische Enklave Ceuta in Marokko erreichen. Oder im Oktober 2013, als 360 Personen vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa ertranken .
Nach diesem Unglück erklärte José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission: «Die Europäische Union kann es nicht hinnehmen, dass Tausende von Menschen an ihren Grenzen sterben.» Maltas Ministerpräsident Joseph Muscat sagte warnend, das Mittelmeer drohe sich in einen Friedhof für verzweifelte Migranten zu verwandeln.
Zahlreiche Tote und Vermisste
Diese gut dokumentierten Vorfälle und die darauffolgenden Eruptionen von Engagement seitens der Politiker und Behörden zeigen den Konflikt auf, der im Innern von Europas Asyl- und Migrationspolitik liegt. Auf der einen Seite anerkennen die Verantwortlichen den humanitären Imperativ, Menschenleben zu retten – auf der anderen Seite wenden sie eine restriktive Migrationspolitik an. Die Strukturen, die viele Menschen in Lebensgefahr bringen, bleiben somit bestehen.
Denn auch wenn niemand hinschaut, kommen immer wieder Personen auf dem Weg nach Europa ums Leben. Bisher war es aber schwierig, wenn nicht gar unmöglich, eine verlässliche Übersicht über die Anzahl verunglückter Migranten zu erhalten. Eine Arbeitsgruppe europäischer Journalisten unter Beteiligung der NZZ hat nun einen umfassenden und detaillierten Datensatz zu Todesfällen und Vermisstmeldungen zusammengestellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Schockierende Zahlen
Die Untersuchung förderte erschütternde Zahlen zutage: Seit Anfang des Jahrhunderts sind über 23 000 Personen auf dem Weg nach Europa gestorben oder als vermisst gemeldet worden. Die Anzahl Todesfälle von Migranten auf dem Weg nach Europa ist damit viel höher als bisher angenommen. Frühere Schätzungen gingen von 17 000 bis 19 000 Opfern seit den frühen neunziger Jahren aus. Bei allen Angaben dürfte die wahre Anzahl, einschliesslich aller nicht dokumentierten Fälle, noch einiges höher liegen.
Für das Projekt unter dem Titel «The Migrants‘ Files» stützte sich die Arbeitsgruppe unter anderem auf Daten der Nonprofitorganisation United for Intercultural Action sowie auf das Projekt «Fortress Europe» des italienischen Journalisten Gabriele Del Grande, der die Anzahl Toter und Vermisster unter den Migranten auf dem Weg nach Europa protokolliert hat. Del Grandes Projekt prägte den Ausdruck «Festung Europa», der heutzutage vielerorts als Synonym für die Asylpolitik der EU verwendet wird.
Zur Überprüfung der Informationen nutzten die Journalisten öffentlich zugängliche Quellen – also beispielsweise Medienbeiträge oder Regierungsdokumente –, um die Vorfälle zu verifizieren. Das geprüfte Material wurde schliesslich in einer einzigen Datenbank aufgeführt.
Schweizer Vorfälle
In der Datenbank sind 19 Schweizer Vorfälle seit dem Jahr 2000 verzeichnet. Darunter auch der Fall des Mannes, der am 18. April 2010 tot in Weisslingen in einem Waldtobel gefunden wurde. Es ist anzunehmen, dass er als blinder Passagier im Fahrwerkschacht eines Flugzeugs in die Schweiz fliehen wollte und aus diesem stürzte, als das Flugzeug im Ostanflug auf den Flughafen Zürich die Räder ausfuhr.
Frontex-Einsätze von Schweizer Grenzwächtern sind seit Anfang 2011 möglich. Damals trat eine Vereinbarung zwischen der Schweiz und der Europäischen Union in Kraft, welche auf dem Grenz- und Sicherheitsabkommen von Schengen basiert. Die Schweiz ist seit Ende des Jahres 2008 Schengen-Mitglied. Darüber hinaus ist ein Einsatz von Schweizer Grenzwächtern an den EU-Aussengrenzen möglich. An der Frontex-Operation «Poseidon» waren ab 2011 auch Spezialisten des Schweizer Grenzwachtkorps (GWK) beteiligt. Im vergangenen Jahr wurden 39 Entsendungen mit insgesamt 1150 Einsatztagen unter Schweizer Beteiligung geleistet. Für das laufende Jahr sind für Mitarbeitende des GWK rund 1250 Einsatztage vorgesehen, insgesamt 44 Entsendungen.
Veränderte Routen
Die Daten aus «The Migrants‘ Files» geben Einblicke in die Dynamik der Migration. Sie zeigen unter anderem auf, wie die Migrationsströme zwischen See- und Landrouten variieren – je nach Jahreszeit, lokalen Konflikten und Kriegszonen sowie je nach Vorliebe der Menschenhändler.
So hat die Europäische Union in den letzten Jahren mit verschiedenen afrikanischen Ländern bilaterale Abkommen unterschrieben und Bestrebungen unternommen, die Sicherheitsbestimmungen entlang der Aussengrenze Europas zu verschärfen. Sobald die jeweiligen Verschärfungen griffen, verschoben sich die Routen der Migranten: von Spanien nach Italien oder weiter nach Griechenland. Die Bewegungen sind äusserst dynamisch und anpassungsfähig.
Ein anderes Beispiel hierfür ist die Operation «Poseidon», die Frontex, die für die Überwachung der EU-Aussengrenzen zuständige Behörde, im Jahr 2011 lancierte. Sie sollte die Grenzkontrollen zwischen Griechenland und der Türkei verstärken. Tatsächlich fiel die Anzahl Migranten auf dieser Route von 55 000 im Jahr 2011 auf knapp über 12 000 im Jahr 2013. Währenddessen wurde aber auf dem Seeweg zwischen der Türkei und Griechenland ein achtfacher Anstieg an Migranten verzeichnet. Die Zahl stieg in derselben Zeitspanne von weniger als 1500 Personen auf über 11 000.
Drehscheibe Libyen
Zurzeit finden wieder mehr Menschen den Weg nach Europa über die griechischen Inseln. Seit der Landweg vom Horn von Afrika über den Sinai nach Israel nicht mehr passierbar ist, ist überdies der Seeweg zwischen Libyen und Lampedusa bei den Menschenhändlern beliebt geworden. Als Startpunkt ist Libyen heute das wichtigste Drehkreuz für Migranten auf dem Weg nach Europa. Der Mangel an Strafverfolgung, ein Resultat des wachsenden Machtvakuums in Libyen, macht die Situation der Migranten dort äusserst prekär.
Die Daten von Frontex bestätigen zwar die Resultate aus «The Migrants‘ Files», doch Frontex zählt die Toten und Vermissten an den Grenzen ebenso wenig wie das europäische Grenzüberwachungssystem Eurosur oder die Internationale Organisation für Migration (IOM). Die Zahlen über verstorbene oder vermisste Personen laufen deshalb Gefahr, vergessen zu werden. Das Ziel von «The Migrants‘ Files» ist nicht zuletzt, diese Zahlen für Politiker, Journalisten und die Öffentlichkeit zu erhalten.
«The Migrants‘ Files» ist ein Projekt mehrerer Organisationen für Datenjournalismus. Beteiligt sind Journalism++ SAS , Journalism++ Stockholm und Dataninja . Zu den Medienpartnern gehören die «Neue Zürcher Zeitung», «El Confidencial», «Sydsvenskan» und «Radiobubble» sowie die freien Journalisten Jean-Marc Manach und Jacopo Ottaviani . Das Projekt wurde teilweise von Journalismfund.eu finanziert
aus: Neue Zürcher Zeitung 03.04.2014