Sie sind jung und ein Großteil ist weiblich. Zum ersten Mal wehren sich viele in ganz Kenia entschlossen und gut organisiert gegen die Zumutungen einer auch vom Internationalen Währungsfonds geforderten Abgabenpolitik, die die Belastung wieder mal nur den Menschen mit wenig Einkommen aufbürden wollte. Der nachfolgende Artikel aus der NZZ von Samuel Misteli fasst das Geschehen in dem ostafrikanischen Land zusammen.
Nach einer blutigen Eskalation mit mehr als zwanzig Toten zieht der Präsident ein umstrittenes Finanzgesetz zurück
Kenyas Präsident William Ruto hat am Mittwochnachmittag angekündigt, ein unpopuläres Steuergesetz zurückzuziehen. Das Gesetz hatte zu Massenprotesten vor allem junger Leute geführt, die sich von Nairobi aus fast auf das ganze Land ausbreiteten. Am Dienstag schlugen die Proteste in Gewalt um. Demonstranten stürmten das Parlament in der Hauptstadt Nairobi, die Polizei erschoss laut der kenyanischen Ärztevereinigung mindestens 23 Demonstranten.
In einer live am Fernsehen übertragenen Rede kündigte Präsident Ruto am Mittwoch an, er werde das umstrittene Gesetz nicht unterzeichnen. Das Parlament hatte es verabschiedet, kurz bevor Demonstranten in das Gebäude vordrangen. Das Gesetz sah eine Reihe von Steuererhöhungen vor, die darauf zielten, Kenyas Haushalt ins Gleichgewicht zu bringen. Das Land ist hoch verschuldet, der Internationale Währungsfonds und andere Geldgeber drängten auf die Steuermassnahmen.
Rutos Ton unterschied sich stark von einer Rede am Vorabend, als er nach der Eskalation von «Verrat» gesprochen und ein Durchgreifen angekündigt hatte. Da hatte die Regierung bereits die Armee aufgeboten, um die Polizei zu unterstützen. Viele Kenyaner kritisierten nach der Rede, der Präsident habe keine Empathie mit den getöteten Demonstranten gezeigt. Am Mittwoch holte Ruto dies nach und sprach den Angehörigen sein Beileid aus.
20 Jahre und jünger
Der Rückzug des Gesetzes ist ein grosser Sieg für die Demonstranten. Die Proteste hatten eine neue Generation auf die Strasse gebracht. Viele von ihnen waren Anfang 20 oder jünger, Studenten und Universitätsabgänger, die nur schwer Stellen finden. Die meisten von ihnen demonstrierten zum ersten Mal. Anders als bei früheren Protesten in Kenya wurden die Proteste nicht von der politischen Opposition gestartet, sondern auf Social Media unter dem Hashtag «Rejectfinancebill2024». Viele sprachen von Protesten der Gen Z, also der zwischen Mitte der 1990er und Anfang der 2010er Jahre Geborenen.
Der Protest richtete sich gegen Steuererhöhungen unter anderem auf elektronische Transaktionen, auf Windeln und Fahrzeuge. Ruto hat seit seinem Amtsantritt 2022 eine Reihe neuer Steuern eingeführt, die eine Bevölkerung trafen, die ohnehin mit Inflation, steigenden Lebenskosten und Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat. Den Demonstrantinnen und Demonstranten ging es aber um mehr als um neue Steuern. Viele sagten, sie demonstrierten gegen Korruption und gegen eine politische Elite, die der Bevölkerung immer mehr aufbürde, aber verschwenderisch mit den Steuergeldern umgehe. Rutos Regierung verantwortet mehrere Korruptionsskandale. Für Ärger sorgte jüngst, dass der Präsident einen Privatjet mietete, um mit einer grossen Entourage zum Staatsbesuch in die USA zu reisen.
Der Präsident hat die Kritik offenbar gehört. In seiner Ansprache am Mittwoch kündigte er an, Austeritätsmassnahmen auf der Ausgabenseite umsetzen zu wollen. Die Regierung beginne mit dem Präsidentenbüro, wo etwa Reiseausgaben gekürzt würden. Ruto versprach auch, einen Dialog mit den jungen Demonstranten und zivilgesellschaftlichen Organisationen zu starten.
Polizei verschleppte Influencer
Einen solchen Dialog hatte der Präsident schon am Sonntag angekündigt. Die Demonstranten lehnten aber ab. Auch eine abgeschwächte Version des Finanzgesetzes, wie es die Regierung zu dem Zeitpunkt vorschlug, wollten sie nicht akzeptieren. Dazu kam Wut über die Härte, mit der die Polizei schon vergangene Woche gegen Demonstranten vorgegangen war. Bereits bei den ersten Demonstrationen waren zwei Demonstranten getötet worden. Zudem verschleppten und verhörten Polizisten in Zivil mehrere Aktivisten und Social-Media-Influencer, die sie verdächtigten, die Proteste zu organisieren.
Samuel Misteli, Nairobi NZZ v. 28.06.24