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Dave Eggers – weit gegangen

Köln 2008; 764 Seiten, 24,95 €
(Original: What Is The What; 2006)

„Sie suchten sich irgend ein Dorf aus und umzingelten es bei Nacht. Wenn das Dorf dann erwachte, kamen sie von allen Seiten angeritten und töteten und plünderten nach Lust und Laune. Sie nahmen alles Vieh mit, und was sie nicht stahlen erschossen sie. Jeder Widerstand führte zu Vergeltungsaktionen. Männer wurden auf der Stelle getötet. Frauen wurden vergewaltigt. Die Hütten niedergebrannt, die Brunnen vergiftet und die Kinder verschleppt“ (169). Das alles hatte der junge Valentino Achang Deng gesehen, ein junger Flüchtling aus einem südsudanesischen Dorf.

Nachdem arabische Milizen sein Dorf überfallen hatten, floh er ohne Familie zunächst in das damals noch „sozialistisch“-regierte Äthiopien, wo die SPLA, die Sudanesische Befreiungsarmee, Flüchtlingslager unterhielt. Dave Eggers hat die Geschichte von Deng aufgeschrieben.

Deng floh die weite Strecke zu Fuß. Deshalb ist „weit gegangen“ nicht nur der Titel der deutschen Ausgabe, sondern auch einer von zahlreichen Namen, die Deng auf seiner Flucht benutzte.

Schon die monatelange Flucht nach Äthiopien war abenteuerlich und gefährlich und endete für manch seiner zahlreichen GefährtInnen tödlich. Hunger, Durst, Angriffe der Regierungsarmeen und verbündete Milizen (Murahilin), wilde Tiere; die Liste der Gefahren war lang.

Unter den Flüchtlingen, so kapierte der junge Valentino relativ schnell, gab es eine strenge Hierarchie: „Mein Zorn brannte heißer, als er je gegen die Murahilin gebrannt hatte. Er nährte sich aus der Erkenntnis, dass es innerhalb der Vertriebenen eine Rangordnung gab. Und das wir auf der untersten Sprosse er Leiter standen. Wir waren absolut entbehrlich, und zwar für alle – für die Regierung, die Murahilin, die Rebellen, die besser gestellten Flüchtlinge“ (325).

Tausende SüdsudanesInnen flohen 1987 nach Äthiopien „das Land wurde von Sudanesen überschwemmt“ (369). In wenigen Wochen entstand unweit der Grenze das riesige Flüchtlingslager Pinyudo, in dem der junge Valentino drei Jahre lebte: „Das ist ein unvergessliches Bild, Menschen, die einfach dasitzen, umgeben von Rebellen und äthiopischen Regierungssoldaten, und darauf waren, etwas zu essen zu bekommen“ (369).

Eggers schildert ausführlich die Brutalität im Flüchtlingslager. Das Lager war militärisch straff organisiert, mit strengen Vorschriften und regelmäßigen Arbeiten. Die Jungen in den Flüchtlingslagern mussten jeden Tag zuerst exerzieren, danach zum Unterricht, und danach bis zum Abendessen unentgeltlich zwangsarbeiten. Die anstrengendsten Arbeiten wurden den Elternlosen auferlegt: „Es war wesentlich deutlicher geworden, zu welchem Zweck wir da waren: Wir sollten genährt und gestärkt werden für den Kampf, in den wir ziehen sollen, sobald wir groß genug waren oder die SPLA verzweifelt genug, um uns einzusetzen – je nachdem was zuerst eintrat“ (466).

Die UN, die offiziell die Verantwortung für Pinyudo hatte, kooperierte mit der SPLA. „Je stärker die UN präsent war, Monat für Monat trafen neues Material und neue Geräte ein, umso stärker wurde auch der Einfluss der SPLA“ (467). Dabei schien es eine (unabgesprochene?) Arbeitsteilung zu geben: Die UN beteiligte sich nicht direkt an den mitunter tödlichen Einsätzen und Strafmaßnahmen der SPLA im Lager, ließ sie aber gewähren und rüstete sie mit zivilen Gütern aus.

Es kam auch zu Spannungen mit der lokalen Bevölkerung. Diese gipfelten in dem sogenannten Pinyudo-Agenga-Massaker: die SPLA brannte das äthiopische Dorf Agenga nieder und tötete Frauen, Kinder und Tiere. Insgesamt sollen dort bis zu 100 Menschen gestorben sein.

Im nahe gelegenen SPLA- Schulungslager Bonga war die Ausbildung streng und unerbittlich. Viele Jungen starben dort aus Erschöpfung, wurde erschlagen oder erschossen. Valentino kam nicht nach Bonga, weil – als er im Sommer 1991 an der Reihe war – die äthiopische Regierung gestürzt wurde. Nach über drei Jahren wurden 40.000 Menschen aus dem Flüchtlingslager von der äthiopischen Armee brutal geräumt. Eggers beschreibt, wie der Grenzfluss Gilo sich von dem Blut der Erschossenen rot färbte.

Weiter ging die Flucht nach Kenia. In dem riesigen Flüchtlingslager Kakuma („ein fürchterlich Ort für die Menschen die dort leben, für die Kinder die dort aufwuchsen“ 531) wurde aus dem Jungen Valentino ein junger Mann. Auch dort fanden sich die elternlosen Jungs wieder ganz unten in der Lagerhierarchie. Offiziell gab es keine SPLA Vertreter, doch die Offiziere der Befreiungsarmee konnten sich ungehindert im Lager bewegen und rekrutieren. Die Kooperation mit der UN funktioniert ähnlich wie in Pinyudo.

Die ersten Jahre verbrachte Valentino in Kenia in der Hoffnung, bald nach Hause zurück kehren zu können. Doch nach zehn Jahren wurde er im Rahmen des US-amerikanischen Hilfsprogramm „Lost Boys of Sudan“ schließlich in die USA ausgeflogen (unter den mehr als 27.000 sudanesischen „Lost Boys“ waren lediglich 89 Frauen).

Parallel erzählt Eggers Dengs Leben in den USA. Einerseits, wie er im vermeintlich sicheren Atlanta (USA) in seiner Wohnung von afroamerikanischen Gangstern überfallen, stundenlang gequält und ausgeraubt wird. Andererseits über sein Leben in der sudanesischen Exilcommunity und mit solidarischen AmerikanerInnen.

Soweit zur Handlung des Buches.

Interessant wird die Geschichte durch den politischen Kontext, in den sie Eggers und (auch Deng) stellen.

Zunächst ist da die grausame Brutalität der südsudanesischen Realität zu Zeiten des Bürgerkriegs. Darüber hinaus wird die Brutalität des Lebens in den Flüchtlingslagern ausführlich geschildert. Die Rolle der SPLA wird keineswegs schön geredet. Im Gegenteil.

Gleichzeitig zeigt es, wie die einfachen Menschen, die Anfangs dem Bürgerkrieg und der SPLA (Südsudanesische Befreiungsarmee, bewaffneter Arm der SPLM) ablehnend gegenüber standen, am Ende Stolz sind über das erreichte – und trotz all der blutigen Opfer „alles Leid, das sie (die SPLA) verursacht hat … mehr oder weniger vergessen und vergeben“(77).

Denn die, die zunächst unbeteiligt waren, mussten sich für eine Seite entscheiden. Eine unparteiliche Haltung war nicht mehr möglich. Die Regierungstruppen rächten sich für jeden Angriff der Rebellen an der Zivilbevölkerung. Sie töteten ZivilistInnen, vergewaltigten Frauen, versklavten Kinder, stahlen Vieh, vergifteten Brunnen, plünderten Hütten und verbrannten die Ernten.

Doch die Rebellen ließen die Dörfer schutzlos zurück. „Das war damals schon unbegreiflich für mich und sollte es noch viele Jahre bleiben“ (222). Die Strategie der SPLA, möglichst viele  Menschen in Lagern unter ihre Kontrolle zu bringen, durchschaute er nicht. Nur dort waren sie vor den Murahilin sicher und der Terror in den Lagern wurde als „kleineres Übel“ wahrgenommen.

Die wohlhabenden Familien dagegen hatten den Süden bereits verlassen, bevor es zu ernsteren Zwischenfällen kam. Sie zogen dorthin, wo sie es für sicherer hielten (107). Das Leiden und Sterben überließen sie den Armen. 

Das die Geschichte Dengs gleichzeitig zu fragwürdigen politischen Zwecken instrumentalisiert wird, ist schade aber scheint da fast zwangsläufig in der Logik des Krieges zu liegen: denn die SPLA und die Regierungstruppen haben die Bevölkerung „weich“ geschossen.

Bedenklich ist, wie die Erzählung des Westens über den Bürgerkrieg als ethnischer Konflikt unkritisch reproduziert wird. So wird die Südsudanesische Befreiungsbewegung (SPLM) als Bewegung dargestellt, die immer schon für die Abspaltung des Südens kämpfte. Das ist schlicht falsch. Der historische Führe der SPLM, John Garang, der 2005 bei einem Hubschrauberabsturz unter ungeklärten Umständen ums Leben kam, stand immer für die Einheit des Sudans. Wahrscheinlich musste er sterben, weil er einer Aufspaltung des Landes im Wege stand. Kein Wort davon bei Eggers, der das Buch im Rahmen der Kampagne für einen unabhängigen Südsudan vermarktet.

Darüber hinaus kommt bei Eggers Imperialismus nicht vor. Der Konflikt wird als innerafrikanischer dargestellt und die Weißen sind die Guten, die den Afrikanern helfen. Ökonomische Interessen? Ausbeutung? Einzig und allein das Regime in Khartoum und deren Verbündete scheinen selbiges zu verfolgen.

Nach dem Ende des Bürgerkriegs sind die aus den USA  zurückkehrenden „Lost Boys“, „die best ausgebildete Bevölkerungsgruppe in der Geschichte des Südsudans“ (720), mit einigem Kapital ausgestattet Teil jener neuen Entwicklungseliten, die den Kapitalismus im Südsudan zum Durchbruch verhelfen sollen. Deng versteht sich als Teil dieser Elite.

„Wir sollten Bilderbuchimmigranten sein, fleißig und strebsam“ (246) sagte er im Buch. Und wirklich ist das Buch die Geschichte eines fleißigen und strebsamen  Bilderbuchflüchtlings, angepasst und ohne Ecken und Kanten.

Trotzdem ist das Buch absolut lesenswert, denn das, was Krieg für die Menschen wirklich ausmacht, bringt es in schonungsloser Brutalität rüber. Es ist die Geschichte von Menschen, denen das Recht auf Leben aberkannt wurde. Ihr Leiden und Sterben ist der Blutzoll für einen „Neuen Sudan“. Schrecklich!