Dieses Mal war der Verlag Assoziation A wesentlich schneller als der Autor dieser Rezension. Rechtzeitig zwei Monate vor der Weltmeisterschaft gab er einen Sammelband zu Südafrika – Die Grenzen der Befreiung raus und nutzte so den allgemeinen Hype, der bei solchen Groß-Events fast automatisch alle Blicke auf das Gastgeberland zieht. Mittlerweile ist Spanien Weltmeister und die Medienkarawane hat Südafrika wieder verlassen. Das meiste, was uns als Hintergrundberichterstattung angeboten wurde, wussten wir schon irgendwie. Das hier angesprochene Buch verlässt den Mainstream und spricht Fragen an, die auch für soziale Bewegungen in Europa von grundsätzlicher Bedeutung sind. Insofern lässt der Rezensent bei dieser Besprechung guten Gewissens jeglichen Aktualitätszwang hinter sich. Denn Südafrika – Die Grenzen der Befreiung ist ein Buch über den Hype hinaus und verlangt, abseits von nervigen und meist schlechten Fußballspielen in Ruhe gelesen zu werden.
Wie im Untertitel schon anklingt, zieht der Sammelband mit Beiträgen verschiedenster Autoren eine Bilanz über die Entwicklung des Landes in den 16 Jahren nach Zerschlagung des Apartheidsregimes. Dabei geht es den Herausgebern Jens Eric Ambacher und Romin Khan nicht um eine Auseinandersetzung mit den offiziellen politischen Verhältnissen. Sie interessieren sich vielmehr für die, „die jetzt bei dem Mega-Event der Fußballweltmeisterschaft allenfalls die Rolle von Zaungästen einnehmen, aber ohne deren Entscheidung zum Widerstand und zur Auflehnung gegen rassistische Unterdrückung es heute keine demokratischen Verhältnisse in Südafrika gäbe“ (S.8). So hat man sich dafür entschieden, nebst einigen Wissenschaftler_innen überwiegend Aktivist_innen aus den sozialen Bewegungen des Landes zu Wort kommen zu lassen. Als zentrales Thema bilden die Beiträge „die in der Apartheid wurzelnden und sich im Neoliberalismus fortsetzenden Probleme wie der ungleiche Zugang zu Wohnraum, Gesundheitsversorgung und sozialen Grundleistungen, an denen sich die Kämpfe um soziale Befreiung heute entzünden“ (S.15)ab. Zudem untersuchen sie die Gründe für das mit Blick auf den Anti-Apartheidskampf paradox erscheinende Phänomen latenter Fremdenfeindlichkeit, das sich im Mai 2008 bei pogromartigen Ausschreitungen mit 63 Toten fast durchweg gegen MigrantInnen afrikanischer Herkunft äußerst gewaltsam entlud. Und wir erhalten Antworten auf die Frage, warum eine in Sachen Geschlechtergleichheit vorbildliche Verfassung einer Alltagsrealität gegenüber steht, in der nach Polizeischätzungen aus 2008 jeden Tag ca. 150 Frauen vergewaltigt werden.
Wie bei einem Sammelband mit 17 Beiträgen zu jeweils unterschiedlichen Themenbereichen zu erwarten, liest sich nicht alles mit dem gleichen Interesse. Besonders haften blieb bei mir Mandisa Mbalis mit der ‚Treatment Action Campaign‘ verbundenen Geschichte des südafrikanischen Anti-Aids Aktivismus sowie das nachfolgende Interview von Romin Khan mit Zackie Achmat, politisch aktiv seit dem Schüleraufstand von Soweto und einer der Mitbegründer der ‚TAC‘. Mit Hilfe öffentlichen Drucks gelang es dieser Organisation nicht nur, trotz Präsidentschaft des HIV-Leugners Mbeki die Aidspolitik der ANC-Regierung völlig umzukrempeln – am Ende konnte die südafrikanische Regierung sogar Generika-Medikamente wesentlich billiger selbst produzieren oder importieren, weil die großen Pharmamultis, zermürbt auch durch die internationalen Anti-Aids Kampagnen, auf eine juristische Durchsetzung ihrer Patentrechte verzichtete.
Achmat stellt dann nochmal in Kurzform grundlegende Überlegungen über den Sinn von revolutionärem und reformistischen Widerstand in Südafrika an und fordert zuerst einmal, „die Kritik der Verhältnisse“ zu „reorganisieren“ (S.123). Mensch muss diese Meinung nicht teilen, aber sie regt zu einer weiter gehenden Diskussion an. Auch die Ambivalenz des ANC als einer von „alten Männern geführten“ (S. 120) Kaderpartei, die trotzdem die Erwartung vieler Südafrikaner_innen nach Befreiung symbolisiert, beschreibt der Interviewte – dem als ANC Mitglied dieses Verhältnis nicht fremd ist – recht anschaulich.
Erfolge wie die der Anti-Aidsbewegung machen das Lesen leichter. Bei der Beschäftigung mit den anderen Beiträgen kehrt die Leser_in zurück zu den Mühen der Ebene, die sie/er – wenn selbst in sozialen Bewegungen politisch aktiv – auch von hier kennt. So kommt einem das, worauf Shireen Hassim in ihrem Artikel über die Rekonfiguration der Frauenbewegung verweist, nicht unbekannt vor. Der mit 33,8% recht hohe Anteil von Frauen im südafrikanischen Parlament – 32,6% dagegen im deutschen Bundestag – verweist auf die Integration zahlreicher bewegter Frauen in das wie überall patriarchal geprägte politische System. Auf Seiten der Basisbewegungen sieht es nach Hassim in Sachen Sexismus allerdings nicht viel besser aus. Im Antiprivatisierungsforum stellen die Frauen beispielsweise mehr als die Hälfte der Aktivist_innen, „doch die Stimmen der Männer dominieren.“ Entsprechend bilanziert die Autorin, „dass soziale Bewegungen in Südafrika zutiefst vergeschlechtlicht und ungleich und bislang in ihrer Praxis und ihren Visionen von Transformation wenig inklusiv sind, weil sie männliche soziale und kulturelle Macht nicht hinterfragen“ (S.81).
Genau wie bei der Sexismus-Auseinandersetzung gehört nach den fremdenfeindlichen Pogromen von 2008 die Frage nach den Ursachen für die latente und gewalttätige Xenophobie der Anti-Apartheidsgesellschaft zum Pflichtkatalog eines Südafrika-Buches. Michael Neocosmos geht in seinem Beitrag über die gängige Verelendungstheorie hinaus. In dem Festhalten der herrschenden Öffentlichkeit an der Sonderstellung innerhalb Afrikas, das ansonsten meist als primitiv und von Armut gekennzeichnet beschrieben wird, sieht der Autor die Grundlage für die Fremdenfeindlichkeit. Zu brechen sei diese Entwicklung nur dann, wenn sich schwarze Identität und Selbstbewusstsein im gleichberechtigten Austausch mit anderen Menschen aus Afrika und nicht alleine in Abgrenzung zu den Weißen entwickeln könne(S.228/229).
Mit den Beiträgen zur freien Stromversorgung von Greg Ruiters, der Landlosenbewegung von Stephen Greenberg und den Innenansichten des ‚Anti-Privatisation Forum‘ (APF) von Prishani Naidoo werden wir in das Spannungsfeld sozialer Organisierung von Unten eingeführt. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht nur die Unzumutbarkeiten neoliberaler Deregulierung. Besonders Naidoo seziert schon fast die Probleme in der eigenen Organisationsstruktur, die ihrer Meinung weg vom basisdemokratischem Modell hin zur temporären Entwicklung von Avantgarden mit den für solche Gruppen typischen Folgeerscheinungen geführt hat. Was für die einen zu speziell beschrieben erscheint, sorgt möglicherweise bei anderen, die hier in ähnlichen Initiativen stecken, für besonderes Interesse, weil sich die aufgeworfenen Fragestellungen des APF durchaus mit denen hiesiger Basisinitiativen decken (siehe auch izindaba-Schwerpunkt).
Zuguterletzt sei noch der Beitrag über ‚Erinnerungspolitik und gesellschaftliche Aufarbeitung nach der Apartheid‘ erwähnt. Da das Vorgehen der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission(Truth and Reconciliation Commission) zum Vorbild für die Befriedung von ‚Bürgerkriegs-‚ oder ähnlichen Konflikten weltweit wurde, kommt der Analyse von Heidi Grunebaum, Yazir Henri und Ushe Merk exemplarische Bedeutung zu. Sie sehen hier eine an ‚demokratisch-kapitalistischen‘ Werten orientierte Geschichtsaufarbeitung, die „die Frage nach den Ursachen der Konflikte von strukturellen Dimensionen abtrennt“ (S. 205). Folgerichtig, so die These der Autor_innen, wird für von ähnlichen Konflikten betroffenen Staaten das südafrikanische Versöhnungsmodell zunehmend zur Bedingung, wieder Zugang zu den globalisierten Märkten und den mit ihnen verbundenen Institutionen zu finden. Doch noch mehr wie woanders ist die Deutung von Geschichte im Land am Kap umkämpftes Terrain. Entsprechend führt uns der Beitrag auch zu denen, die wie die ‚Direkt Aktion Centre for Peace and Memory‘ die herrschende Erinnerungspolitik mittels der Darstellung des Kampfes gegen die Apartheid als antiherrschaftlichen Kampf angreifen.
Es ist also eine weite Reise in die verschiedensten Gegenden sozialer Widerständigkeit, die uns der Südafrika-Sammelband präsentiert. Dabei machen es uns die Autor_innen nicht immer leicht. Viele Beiträge wollen konzentriert gelesen werden und eignen sich nicht zum Überfliegen. Dennoch fesselt der Großteil des Buches. Vieles interessiert zwangsläufig, weil es um die Frage geht, wie sich durch soziale Gegenmacht von Unten die fortschreitende neoliberale Deregulierung jenseits von Parteiorganisationen bekämpfen lässt. Aber mehr noch: es ist zu spüren, dass sich die Auseinandersetzungen zwischen den sozialen Bewegungen Südafrikas und dem ANC-Regime zuspitzen. Dies erklärt sich nicht nur über die fortschreitende Verarmung weiter Teile der ‚people of colours‘. Hinzu kommt, dass viele der alten Antiapartheidskämpfer_innen den ANC verlassen haben und sich nun mit all ihren Erfahrungen nebst des ihnen darüber zugestandenen Respekts in den sozialen Bewegungen engagieren. Das verleiht diesen eine andere Stärke als denen in Europa. In dem vorliegenden Buch klingt das immer wieder an. Deshalb wirken die Grenzen der Befreiung nicht unverrückbar. So verdient das Geschehen in Südafrika auch jenseits der WM unsere Beachtung. Der Sammelband bietet dazu eine wichtige Grundlage.
Südafrika- Die Grenzen der Befreiung
263 Seiten Preis: 16.- Euro
Hg.: Jens Erik Ambacher & Romin Khan
Berlin/Hamburg 2010 ISBN 978-3-935936-60-6
Assoziation A