Am 20. und 21. Februar 2010 demonstrierten jeweils über 10.000 Menschen in Nigers Hauptstadt Niamey für eine Militärjunta, die zwei Tage zuvor die bis dahin durch Wahlen an die Macht gekommene zivile Regierung gestürzt hatte. Bereits am Wochenende vor dem Putsch, am 13. Februar, hatten Tausende gegen den zivilen Präsidenten Mamadou Tandja protestiert. Der Unmut richtete sich gegen dessen Machenschaften, sich durch eine Verfassungsänderung in einer Art kaltem Staatsstreich eine dritte Amtszeit zu sichern. Die neue Junta gab sich die klingende Bezeichnung „Conseil supreme pour la restauration de la démocratie“ (CRSD, Oberster Rat zur Wiederherstellung der Demokratie). An ihrer Spitze steht der Chef der Luftwaffe Salou Djibou, zugleich Übergangspräsident. Die Junta setzte umgehend einen „Conseil Consultatif National“ (CCN, Nationaler Konsultativrat) mit dem Auftrag ein, eine neue Verfassung zu entwerfen. Die in den Rat berufenen 133 Deligiert_innen sollen als Abbild der Gesellschaft alle Interessengruppen repräsentieren: Frauen, Gewerkschaften, Schüler_innen und Student_innen, Tuareg, Unternehmer, Verwaltung, religiöse Gemeinschaften, traditionelle Chefs usw.
Die Junta versichert, nach Abschluss des Übergangs- (=„Transitions“-) Prozesses die Macht an die dann gewählte Regierung zu übergeben. Und tatsächlich wird der vorgesehene Zeitplan bisher eingehalten: am 31. Oktober fand das Referendum über die neue Verfassung statt, die mit 90,2 % der abgegebenen Stimmen angenommen wurde – bei einer vergleichsweise hohen Wahlbeteiligung von 52,2 % . Die neue Verfassung für den islamisch geprägten Staat – über 90 % der Bevölkerung sind muslimischen Glaubens – ist fortschrittlicher als das deutsche Grundgesetz. Neben den üblichen republikanischen Grundrechten wird z.B. Frauenförderung genauso zu Verfassungsrang erhoben wie der Umweltschutz oder die Anerkennung aller Sprachen. Sexismus (wörtlich) bei der Ausübung der Staatsgewalt wird ausdrücklich verboten.1
Gegen „das teure Leben“!
Der Unmut begann bereits am 14.03.2005, als der 1999 nach einem Militärputsch durch Wahlen an die Macht gekommenen Präsident Tandja auf Verlangen des IWF eine Mehrwertsteuer einführte. Wasser, Energie und wichtige Güter des täglichen Bedarfs sollten mit 19% besteuert werden. Das erhöhte zwar die der Staatseinnahmen, verteuerte aber gleichzeitig die in Niger üblichen Hauptnahrungsmittel Reis und Hirse um bis zu 50%. Es folgten Massen-Demonstrationen und (General-) Streiks gegen „das teure Leben“, die sich mehr als einen Monat lang hinzogen, bis die Regierung die Mehrwertsteuer zurücknehmen musste.2
Kurz darauf folgte eine Hungersnot. Ursächlich war nicht allein der ausbleibenden Regen und die daraus folgenden schlechten Ernteergebnissen, sondern auch IWF-Auflagen, die Nahrungsmittelreserven zu verringern. Tandja leugnete die Existenz der Hungernot und sprach lediglich von einer Nahrungsmittelkrise, weswegen er direkte staatliche Hilfsmaßnahmen für die betroffenen Gebiete ablehnte. Auch hiergegen richteten sich Demonstrationen in Niamey. Tandja erschien vielen zunehmend unfähig und selbstherrlich.
Als schließlich im Mai 2009 bekannt wird, dass Tandja die Verfassung ändern, um ihm und seiner Fraktion der politischen Klasse eine dritte Amtszeit zu ermöglichen, bricht sich die Empörung darüber in Großdemonstrationen in Niamey am 5. Mai und am 14. Juni 2009 Bahn; teilweise kommt es zu gewaltsamen Angriffen auf Tandjas Parteigänger.
In den Protesten drückt sich die Frustration der Mehrheit der Bevölkerung darüber aus, keinerlei Perspektive zu haben, Armut und Elend hinter sich zu lassen – besonders bei den Jüngeren (80 % der nigrischen Bevölkerung ist unter 35 Jahre alt). Es herrscht eine allgemeine Unzufriedenheit mit der hohen Arbeitslosigkeit, den steigenden Lebenshaltungskosten, der Korruption im Staatsapparat und der Intransparenz bei den Einnahmen aus der Uran-, Erdöl- und Goldförderung.3
Doch Tandja lässt sich auch von Vermittlungsversuchen der ECOWAS4 nicht beeindrucken. Im Gegenteil, die Repression gegen unliebsame Kritiker_innen und Journalist_innen wird verschärft.5 Sogar der Oberste Gerichtshof wird aufgelöst, als er sich gegen die Verfassungsänderung stellt. In der Bevölkerung wächst die Furcht vor einem Willkür-Regime. Am 17. Oktober 2009 demonstrieren Tausende in Niamey u.a. mit der Parole: „Nein zur Diktatur, ja zur Demokratie!“6 Am 20.12.2009, zwei Tage vor dem regulären Ende der Amtszeit Tandjas rufen die Gewerkschaften zu einem Generalstreik auf, der vor allem im öffentlichen Sektor weitgehend befolgt wird. Hierbei geht es aber nicht nur um politische, sondern auch soziale Forderungen: 50% mehr Lohn, 50% weniger Steuern auf Einkommen.
Die politische Klasse muss befürchten, dass sich der Unmut der Bevölkerung weiter steigern und unkontrollierbar werden wird. Nachdem die ECOWAS ihre Vermittlungsbemühungen wegen Aussichtslosigkeit einstellt, kommt es schließlich zu dem Militärstreich vom 18. Februar 2010.
„Die Demokratie haben wir uns anders vorgestellt“7
Unruhe in der Bevölkerung, Versagen der Regierung, Eingreifen des Militärs, Einsetzung einer Verfassung gebenden Versammlung, Verfassungs-Referendum, Parlaments- und Präsidentschafts-Wahlen, Ernenung einer Regierung von Zivilisten – dejà vu. Denn nach diesem Drehbuch verläuft die „Transition“ jetzt nicht zum ersten Mal; bereits 1989, 1996 und 1999 erneuerte sich das Regime nach diesem Muster, so dass in der bürgerlichen Presse Militärstreiche bereits als „Niger-typisch“ erscheinen.
Was macht die offenkundige Unregierbarkeit dieser Gesellschaft aus?
Im Niger prallen imperialistische Inwertsetzungs- und Vernichtungsstrategien und der Überlebenswillen einer von Subsistenz- und informeller Ökonomie geprägten Bevölkerung unmittelbar aufeinander. Dieser Antagonismus wird von einer fraktionierten politischen Klasse moderiert, die aus den Eliten des zivilen Staatsapparats und des Militärs besteht und die untereinander um das aus den Ressourcen des Landes pressbare Surplus konkurriert, wobei sie in wechselnden Formationen die jeweilige Regierung stellt.
Aufgrund geografisch-klimatischer Bedingungen8, aber mehr noch wegen der Nachwirkungen des Kolonialismus, und insbesondere als Folge der von IWF und Weltbank seit den 80er Jahren oktroyierten sog. Strukturanpassungsprogramme (SAP)9 sind die Überlebensstrategien der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung permanent prekär. Die am Existenzminimum operierenden Haushalte kollabieren, sobald eine zusätzliche Belastung auferlegt wird (wie z.B. eine Mehrwertsteuer). Nicht umsonst ist Niger auf allen Rankings zu Armut, Lebenserwartung oder „menschlicher Entwicklung“ auf den allerletzten Plätzen zu finden.10
Die Geschichte Nigers der letzten dreißig Jahre liest sich wie ein permanenter Kampf: auf der einen Seite die jeweiligen Regierungen, die versuchen IWF- und Weltbank-Auflagen (SAP) umzusetzen, damit sie weiter Kredite erhalten, mit denen sie sich über die Zeit retten; auf der anderen Seite eine Bevölkerung, die sich von der Durchsetzung der „Demokratie“ v.a. im Umbruch-Jahr 1991 ein besseres Leben erhofft hatte11 und enttäuscht wurde. Eine Bevölkerung, die in weiten Teilen offenbar sehr politisiert sowie in unterschiedlichsten Vereinigungen organisiert ist (sog. Zivilgesellschaft), und die sich in all den Jahren mit Massendemonstrationen, Streiks und oft auch Generalstreiks gegen die auferlegten Zumutungen zur Wehr setzt.12
Unter den gegeben Bedingungen ist der Antagonismus nicht zu lösen, so dass der Militärputsch vom 18. Februar d.J. wohl nicht der Letzte bleiben wird – trotzdem bleibt zu hoffen, dass die jetzt zumindest für einen gewissen Zeitraum eröffneten institutionellen Möglichkeiten für eine Stärkung emanzipativer Prozesse genutzt werden können.
Rezzo
1République du Niger: Texte de l’Avant – Projet de Constitution adopté par le Conseil Consultatif National
„Article 4: (…) Dans l’exercise du pouvoir d’Etat, le pouvoir personnel, le régionalisme, l’ethnocentrisme, la discrimination, le népotisme, le sexisme, l’esprit de clan, l’esprit féodal, l’esclavage sous toutes ses formes, l’enrichissement illicite, le favorisme, la corruption, la concussion et le trafic d’influence son punis par la loi.“
2Jungle world 27.02.2005
3Krise im Niger: Demontage der Demokratie im Namen des Volkes? GIGA Focus Nr. 6, 2009
4 Economic Community of West African States bzw. Communauté Economique de L’Afrique de l’Ouest (CEDEAO), eine Kooperationsgemeinschaft von 15 westafrikanischen Staaten
5Taz 20.10.2009
6AFP 17.10.2009, taz 20.10.2009)
7FR 07.01.1995
8Von den 1.267.000 qm Staatsfläche ist nur ein etwa 100 km breiter Streifen im Süden des Landes für Ackerbau nutzbar. Nördlich davon ist ein Übergangsgebiet, das als Weide genutzt wird, der Rest, der fast dreiviertel der Staatsfläche ausmacht ist Wüste und Halbwüste. Probleme bereiten die Desertifikation und – verstärkt durch den sog. Klimawandel – sowohl Dürren wie auch Überschwemmungen. In Niger leben derzeit ca. 13 Mio. Einwohner_innen, davon etwa 80% im Süden. Als Folge der Land-Stadt-Migration leben die meisten in Städten, insbesondere in Niamey.
9 Zu SAP siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/Strukturanpassungsprogramm, seit Anfang der 80er Jahre, in verschärfter Form ab Anfang der 90er Jahre /Außerdem wurden durch die überraschend erfolgte Abwertung der Währung F FCA um 50% am 11.01.1994 über Nacht alle Importprodukte, also auch Ölprodukte, doppelt so teuer
10So rangiert Niger bei dem aktuellen Human Development Report der UNO, dessen Index 169 Länder umfasst, auf Platz 167.
11Tatsächlich ruhten auf Intervention der 1991 einberufenen National-Konferenz mit 1.200 Repräsentant_innen aus der Bevölkerung die Verhandlungen mit IWF/Weltbank zunächst drei Jahre lang, weil die SAP-Maßnahmen nicht akzeptiert wurden.
12Institut für Afrika-Kunde: Afrika- Jahrbuch. Jahrgänge 1993 – 2003, RIAD Archiv zu Niger