Vom 27. Januar bis zum 6. Februar 2011 wird eine euro-afrikanische Protest-Tour (www.afrique-europe-interact.net) auf ihrem Weg von Bamako/Mali nach Dakar/Senegal zu dem dort stattfindenden Welt-Sozialforum verschiedenste Aktionen und Versammlungen gemeinsam mit Vertreter_innen der dortigen sozialen Bewegungen veranstalten1. Letztere sind Teil einer lebendigen „Zivilgesellschaft“, deren Ausgangspunkt in den Ereignissen des Jahres 1991 liegt.
„Nieder mit der Diktatur!“ schrien die Demonstrant_innen in den Straßen Bamakos, der Hauptstadt Malis, als die Armee an jenem Samstag, den 23. März 1991, das Feuer auf die Menge eröffnete. Mindestens 200 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, starben im Kugelhagel oder verbrannten bei lebendigem Leib in einem Kaufhaus, wohin sich viele geflüchtet hatten und das von Militärs abgeriegelt und in Brand gesetzt worden war. Die Krankenhäuser konnten die über tausend z.T. schwer Verletzten nicht mehr aufnehmen und die Medikamente gingen aus; Nachschub wurde vom Militär blockiert. Begonnen hatten die Auseinandersetzungen am Vortag, als Student_innen für die Zahlung ausstehender Stipendien demonstrierten, Regierungsgebäude geplündert und verwüstet wurden und die Armee mit Tränengas und Maschinengewehrfeuer antwortete. Eine weitere Zuspitzung erfuhr die Konfrontation durch einen Aufruf der Gewerkschaften zu einem unbefristeten Generalstreik – bis zum Rücktritt des Diktators. Dieser begann am darauf folgenden Montag und wurde massenhaft befolgt.
Am Dienstag, den 26. März 1991, verhafteten schließlich Fallschirmjäger-Einheiten unter Führung des Offiziers Amadou Toumani Touré2 den seit 23 Jahren diktatorisch regierenden Moussa Traoré. Der hatte sich 1968 als General an die Macht geputscht und anschließend eine Einheitspartei aufgebaut, die die malische Gesellschaft bis auf die kleinste Dorfeinheit hinunter kontrollieren sollte. Zugleich stützte sich das Regime auf ein um den Familien-Clan Traorés gruppiertes klientelistisches Patronage-System, das sich einen gewissen Reichtum im Meer von Armut sicherte. Zum Zeitpunkt seines Sturzes zählte Traoré zu den zehn reichsten Personen Afrikas mit über 2,5 Mia. $ auf ausländischen Bank-Konten. Begleitet wurde die private Aneignung der vor allem aus Zoll- und Steuereinnahmen gespeisten Staatskasse durch massive Repressalien gegen oppositionelle Personen und Gruppierungen. Unmittelbar nach dem Putsch war ein bis in die 80er Jahre existierendes Internierungslager in einem Salzbergwerk in der Wüste im Norden Malis eingerichtet worden, aus dem kaum jemand lebend heraus kam.
Trotzdem entstanden ab Mitte der 80er Jahre im Verborgenen oppositionelle Zirkel, die klandestin ihre politischen Schriften verbreiteten.
Der wachsende Unmut über mangelnde politische Rechte, über den dreisten Diebstahl der sowieso geringen staatlichen Revenuen, über die von IWF und Weltbank aufgedrückten Strukturanpassungsmaßnahmen (Entlassung von Staatsangestellten, Kürzung der Sozialausgaben, Privatisierung von Staatsbetrieben, „Liberalisierung“ des Getreidemarktes etc.) und das Vorbild der „Intifada à l’africaine“ seit 1989 in anderen afrikanischen Ländern führte zu Massenmobilisierungen gegen das Regime und schließlich zu einer Zuspitzung der Konfrontation ab Januar 1991.
Politisch wurden die Demonstrationen von einem Bündnis aller Gruppen getragen, die demokratische Strukturen forderten. Faktisch waren es die Schüler_innen und Student_innen, Frauen und von den Gewerkschaften mobilisierte Arbeiter_innen, die immer wieder auf die Straße gingen, und die auch ihre sozialen Forderungen artikulierten. Eine besondere Bedeutung für die Militanz der Bewegung hatten die Jugendlichen, die jedes Jahr im Januar, wenn auf dem Land die Ernte zu Ende geht, in die Städte ziehen und Arbeit und Ausbildung suchen. Das härtere Vorgehen von Polizei und Militär richtete sich besonders gegen sie, so dass bereits bei einem Protestmarsch Ende Januar 1991 mehrere Jugendliche erschossen wurden, was sowohl zu einer Radikalisierung der Bewegung wie auch zu einer Solidarisierung anderer gesellschaftlicher Gruppen geführt hatte.
Nach dem Sturz des Diktators setzten die jungen Putsch-Offiziere einen „Nationalen Rat der Versöhnung“ ein. Damit gaben sich die Revoltierenden jedoch nicht zufrieden, die Mobilisierungen gingen weiter. In größeren Betrieben und in den Schulen fanden laufend Versammlungen statt, bei denen die politische Entwicklung diskutiert wurde. Der Jubel über den Sturz der Diktatur verband sich mit der Plünderung von Geschäften, die Parteigängern des alten Regimes gehörten. Einzelne Mitglieder der Traoré-Regierung wurden erschlagen. Über 1.500 in Gefängnissen Inhaftierte brachen aus. Fast täglich wurde in einem Betrieb gestreikt, um die Entlassung eines Direktors zu erwirken, der Verbindungen zur alten Herrschaftsclique hatte. Als Polizisten nach einer eigenen Demonstration für höhere Löhne auf Schüler_innen los gingen, wurden im Gegenzug Polizeistationen verwüstet, was allgemein auf große Zustimmung stieß.
In den folgenden Monaten gab es immer wieder Demonstrationen gegen den Verbleib ehemaliger Traoré-Anhänger in Spitzenpositionen, aber auch für die Abschaffung der vom IWF durchgesetzten Mehrwertsteuer, für höhere Löhne und Stipendien. Gezielt wurden Geschäfte von Mitgliedern oder Profiteuren des alten Regimes geplündert und verwüstet. „Der Druck der Basis ist zu groß, um das Erreichte rückgängig zu machen“, so die NZZ am 9.6.1991. Im Juli scheiterte ein Gegenputsch. Fast täglich wurden Angehörige des Traoré-Clans verhaftet. Es kursierte eine Liste von 78 hochrangigen Personen, die öffentliche Gelder unterschlagen haben sollten. Im Januar 1992 wurde eine neue Verfassung verabschiedet. Darauf folgten im März und April erste Wahlen zur Nationalversammlung. Die Vergangenheit der Kandidat_innen für die Wahlen wurde öffentlich durchleuchtet. Die gesamte ehemalige Staatsspitze blieb bis zum Beginn des Gerichtsprozesses gegen sie im Juni 1992 hinter Gittern. Dieses Mammut-Verfahren, ein „Nürnberger Prozess afrikanischer Art“ (taz 15.2.1993), wurde im ganzen Land live im Radio übertragen und mit großer Spannung verfolgt.
Die konsequente Entmachtung aller Personen, die Teil des diktatorischen Regimes waren, und die Verhinderung ihrer Re-Integration in das neue politische System macht die „demokratische Revolution“ von 1991 in Mali so einzigartig in Afrika.
Hinzu kommt das Trauma des Massakers vom 22./23. März 1991, das sich tief in das kollektive Bewusstsein eingebrannt hat; kein Militär und keine Regierung würde sich trauen, gesellschaftlichen Protest mit Gewalt zu beantworten und den „Bluthund“ wie einst Traoré zu geben.
Es sind wohl diese beiden Momente, die ein roll-back nach 1991 verhindert haben. So haben sich in Mali seitdem eine Vielzahl von staatskritischen Initiativen und Selbstorganisationen gebildet und es existiert ein offenes politisches Klima. So gibt es über 150 lokale Radiostationen, die z.T. äußerst kritisch mit der Schicht der Berufs-Politiker_innen ins Gericht gehen; Selbstorganisationen von Bäuer_innen gegen die Durchsetzung genmanipulierten Baumwollanbaus sowie gegen das land-grabbing Libyens; viele Frauengruppen und gewerkschaftlich organisierte Arbeiter_innen.3 Politische Gefangene gibt es nicht, was selten ist in Afrika.
Die soziale Situation der Malier_innen hat sich deswegen jedoch nicht verbessert – nach wie vor zählen sie zu den Ärmsten der Welt.
Quellen: Ruhrgebiets-Internationalismus-Archiv Dortmund
1Zur politischen Begründung der Karawane s. auch: http://www.grundrisse.net/grundrisse36/zur_notwendigkeit_der_politische.htm
2 auch ATT genannt; er stellte sich 2002 erstmals erfolgreich zur Wahl als Präsident und wurde 2007 wiedergewählt
3Mehr aktuelle Informationen zur Vielfalt der malischen sozialen Bewegungen wird es in einem gesonderten Beitrag nach der Bamako-Dakar-Karawane geben