Rezension von:
Jutta Bakonyi; Land ohne Staat; Wirtschaft und Gesellschaft im Krieg am Beispiel Somalias; Frankfurt/M. und New York 2011
Der somalische Staat gilt seit 1991 als gescheitert. Weil die Debatte um die „failed states“ dem Staat als zentraler Analysekategorie verhaftet bleibt, verstellt sie den Blick auf das Leben jenseits des Staates. In ihrer im Campus-Verlag veröffentlichten Doktorarbeit beschreibt Jutta Bakonyi dieses Leben jenseits des Staates an Hand des Beispiel Somalia.
Bemerkenswert an dieser Arbeit ist sicherlich, dass Bakonyi zwischen 2002 und 2007 in Somaliland1, Somalia und Kenia zahlreiche Gespräche mit wirtschaftlichen und Kriegs-Akteuren, Mitgliedern der Lokalverwaltungen und Klanältesten sowie Mitarbeitern internationaler Organisationen führte. So gelingt es ihr, ein vielfältiges Bild der somalischen Gesellschaft im Krieg entstehen zu lassen. Dabei folgt sie vier Leitfragen:
- Wie stellt sich im Krieg und jenseits des Staates eine neue Gesellschaftlichkeit her?
- Wie funktioniert diese neue Gesellschaft jenseits des Staates?
- Wie werden Macht und Herrschaft im Krieg und jenseits des Staates organisiert und welche neuen Regierungsformen bilden sich heraus;
- Wie überleben die Menschen in einer Ökonomie des Krieges, welche Formen der ökonomischen Reproduktion bilden sich unter diesen Bedingungen heraus und in welchem Verhältnis stehen sie zu Gewalt und Machtbildung.
Krieg versteht Bakonyi dabei als eine spezifische Form sozialer Praxis, die Gewalt beinhaltet, sich aber nicht auf Gewalt reduzieren lässt. Krieg könne nicht „allein mit der Lehrformel der rationalen ökonomischen und politischen Interessen“ (36) hinreichend erklärt werden. Die gesellschaftsverändernde Dynamik des Krieges sowie die Organisation und das Management von Angst seien nicht minder zentral.
Als Gegenbeispiel zur Gewalteskalation in Somalia beschreibt sie an zahlreichen Beispielen, wie in Somaliland weitgehend ohne internationale Einmischung eine Gewalteskalation gebremst bzw. verhindert wird.
Zunächst nähert sich Bakonyi ihrem Forschungsgegenstand, der Gesellschaft im Krieg, theoretisch.
Ihre Ausgangshypothese in Anlehnung an die Grundthese der Hamburger Kriegsursachen-Theorie2 ist, dass kapitalistische Expansion von Friktionen, sozialen Verwerfungen und gewaltsamen Kämpfen begleitet wird: „Die zentrale Konfliktlinie der Moderne verläuft entlang der Ausdehnungs- und Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus, im Aufeinandertreffen von bürgerlich-kapitalistischen und traditionalen Formen der Vergesellschaftung“ (52). Mit anderen Worten: ohne Massenmord kein Kapitalismus!
Den aktuellen Stand der politologischen Forschung zum Krieg legt sie dezidiert und kenntnisreich dar, so dass der Abschnitt zum Stand der Forschung für politikwissenschaftlich Interessierte als eigenständiger Beitrag lesenswert ist.
Dass sie allerdings linke und feministische Diskussionen, die sich mehr mit den Folgen der Kriegsökonomie für die Zivilbevölkerung auseinandersetzen, völlig außer Acht lässt, hat Folgen: sie beschreibt die Gesellschaft im Krieg aus Sicht der Eliten.
Vom Kolonialismus zum „Land ohne Staat“
Im zweiten Kapitel liefert Bakonyi einen knappen aber informativen historischen Aufriss vom Beginn der Kolonialisierung im 16. Jahrhundert bis zum Ende der Staatlichkeit.
„Seit Beginn der Europäischen Entdeckungsreisen im 19. und 20. Jahrhundert wurde von Reisenden und Forschern der überraschende Mangel an institutionalisierter Herrschaft, die Ablehnung von Autorität sowie die Freiheitsliebe der Somali hervorgehoben“ (100). Das auf nomadische Tradition beruhende Sozialleben in Somalia wurde durch zwei zentrale sich ergänzende Prinzipien reguliert: ein mündlich überliefertes Rechts- und Vertragssystem in und ein patrilineares, auf Konsens beruhendes Klansystem3, als stabiles Zentrum für die die soziale Ordnung.
Erst ab dem Zweiten Weltkrieg, der 1936 mit dem Angriff der italienischen Kolonialarmee auf Äthiopien begann, wurde die somalische Wirtschaft allmählich modernisiert und kommerzialisiert. Die Kolonialarmee, für die das faschistische Italien in den 1930er Jahren mehr als 40.000 somalische Kombattanten rekrutiert hatte, avancierte zum maßgeblichen Motor der Modernisierung: „Die Soldaten der Kolonialarmee wurden während des Zweiten Weltkrieges mit einem neuen Lebensstil konfrontiert, und wollten nach Beendigung des Krieges nicht mehr in die von Ältesten dominierten Lebensverhältnisse zurückkehren“ (107).
Doch bis heute hängt ein Großteil der Bevölkerung nomadischen bzw. halbnomadischen Lebensweisen an. Diese Lebensweisen zu zerstören, bleibt das zentrale Projekt kapitalistischer Modernisierung in Somalia – bis heute.
Nach der Unabhängigkeit 1960 wurde die Armee, mit bis zu 55.000 Kombattanten eine der größten in Afrika, die zentrale Institution des neuen Staates. Den Ogaden-Krieg4 gegen Äthiopien 1978 beschreibt Bakonyi als Ausgangspunkt einer Gewaltgeschichte, die zunächst zum Aufstand verschiedener bewaffneter Gruppen und zum Ausbau der Repressionsapparate Anfang der 1980er Jahre, dann ab 1988 zum Bürgerkrieg und schließlich zum Volksaufstand und zur Vertreibung des Präsidenten führte.
Bakonyi beschreibt das Entstehen einer Gewaltökonomie als gemeinsames Projekt von Bourgeoisie und Kombattanten, wobei die diversen Armeen der Oppositionskräfte sich vor allem mit Entlassenen und Deserteuren der riesigen staatlichen Armee auffüllten. „Die unteren städtischen Schichten und mehr noch die ländlichen Bevölkerungsgruppen [standen] der Gewaltorganisierung tendenziell skeptisch gegenüber und zogen es offenbar vor, sich einer direkten Konfrontation mit dem Staat zu entziehen“ (142).
Doch Anfang 1991 war deren Geduld zu Ende. Die aus Mitgliedern nahezu aller Klans zusammengesetzten städtischen Unterklassen fegten Präsident Barre mit einem Volksaufstand im Mogadischu aus dem Amt. Sie feierten ihren Sieg mit ausgedehnten Überfällen und Plünderungen. „Die Gewalt der Masse war zwar kaum organisiert aber dennoch nicht willkürlich. Gewalt richtete sich auch weiterhin vor allem gegen die materiellen Ausdrucksformen und Insignien der verhassten Staatsgewalt: Regierungsgebäude, Kasernen, Polizeistationen und andere öffentliche Einrichtungen“ (160).
Gegen diese Unordnung brachten die Eliten sofort die Klans und die klanbasierten Milizen in Stellung: Der Warlord Ali Mahdi wurde zum Übergangspäsident ernannt, eine Ernennung, die die anderen Warlords nicht akzeptierten. Damit war der Grundstein für die zweite Phase des Krieges gelegt: der Kampf verschiedener mehr oder weniger klanbasierter Warlordfigurationen um die Macht. Der soziale Sprengstoff wurde – ähnlich wie zur selben Zeit in Jugoslawien – ethnisiert, die Gewalt wurde „kulturalisiert und zunehmend durch kulturelle Zugehörigkeiten gerechtfertigt“ (161). Diese „Kulturalisierung der Gewalt“ wurde dadurch gefördert, dass die Bürgerkriegsarmeen sich nicht einfach auflösten, sondern – meist entlang von (imaginierten) Klangrenzen – in Milizen, Gangs und Banden zerfielen.
Humanitäre Interventionen
In einem Kapitel über humanitäre Interventionen beschreibt Sie, wie ausgehend von der Hungersnot 1974-1975 und der Flüchtlingskrise nach dem Ogadenkrieg die Katastrophenhilfe zu einem eigenständigen ökonomischen Faktor wurde ist, deren erste Zielsetzung in der Sesshaftmachung der Nomaden lag. Nachdem 1981 die Ernährungssicherheit weitgehend wieder hergestellt war, wurden die Lager zu permanenten Einrichtungen, in denen „insgesamt über eine Millionen Menschen länger als ein Jahrzehnt durch internationale Spenden versorgt wurden“ (218). Der Beginn des Bürgerkriegs 1988 und der Staatszerfall ab 1991 führten erneut zu schweren Versorgungsengpässen und einem Ausbau der Katastrophenhilfe. Die internationalen Gaben schwächten einerseits die lokalen Märkte, andererseits wurden sie als Waren verkauft. Die Führungsriegen der Milizen, die Schutzgelder erpressten und ihre Leute versorgen mussten, Geschäftsleute sowie traditionelle und religiöse Autoritäten schlossen sich zu „Schutzrackets“5 zusammen und organisierten gemeinsam Transport, Verteilung und Bezahlung der Hilfsgüter.
Die UN- bzw. US-Intervention 1992-1995, die mit übertriebenen Zahlen von Hungernden und Plünderungen begründet wurde, brachten neben weiteren Eskalationen der Gewalt eine neue Handelsökonomie: Aus den „Schutzrackets“ wurden „Mittlerrackets“, die mit den Besatzern gute Geschäfte machten: für den Schutz von weniger als 50 Mio. US-$ Nothilfe wurden 2 Mia. US-$ ausgegeben. 90% der UN-Gelder wurden für militärische Komponenten ausgegeben. Am Elend ließ sich nun prächtig verdienen.
„Einige der neu aufgestiegenen Geschäftsleute engagierten sich für den Aufbau lokaler und staatlicher Verwaltungsstrukturen, unterstützten die in Djibouti gebildete neue Übergangsregierung und förderten mit Sharia-Gerichten die Durchsetzung und eine Verbesserung der Sicherheit. Andere Geschäftsleute rekrutierten eigene Milizen, rivalisierten mit ihren vormaligen Verbündeten und verstärkten zentrifugale Tendenzen in den Gewaltorganisationen“ (273).
Trotz anhaltender Gewalt verzeichnete Somalia nach 1995 ein rasches wirtschaftliches Wachstum. Bakonyi beschreibt an drei Beispielen, wie die wirtschaftlichen Beziehungen in einem instabilen Machtgefüge ohne staatlichen Schutz und Rechtsgarantien organisiert werden.
Geldgeschäfte
Ihr erstes Beispiel bezieht sich auf das informelle Geldüberweisungssystem Hawala. Die Geldüberweisungen der somalischen Diaspora betragen laut Schätzungen zwischen 350 Mio. und 1 Mia. US-$ jährlich. Ungefähr jeder vierte Haushalt in Somalia erhält Überweisungen aus dem Ausland, wovon eher sozial besser gestellte und urbane Familien profitieren. In den Städten bilden die Geldtransfers durchschnittlich 40% des Haushaltseinkommens: „Die Übermittlung von Geld funktionierte relativ einfach und dauerte selten länger als drei Tage. Angenommen, eine Migrantin aus London beschloss ihrer Mutter in Kismayo Geld zu senden, so ging sie zur Londoner Zweigstelle eines Transferunternehmens, zahlte hier den Betrag ein und nannte die Daten der Empfängerin. Das Unternehmen zahlte das Geld auf sein Konto bei einer Bank in London ein, von wo es zur Hauptbank des Transferunternehmens, meist in Dubai, Djibouti oder Nairobi, übermittelt wurde. Der Agent der Londoner Zweigstelle kontaktierte via E-mail, Fax oder Telefon das Hauptquartier, das wiederum die Zweigstelle in Kismayo informierte. Hier wurde das Geld an die Empfängerin oft noch vor seinem physischen Erscheinen an die Zweigstelle ausgezahlt. Hawala wurde auch für den Handel in Somalia und für die Bezahlung von Importen genutzt und die von den Händlern eingezahlten Beträge konnten so mit Auslandsüberweisungen verrechnet werden. Um das Risiko und die Gefahr von Überfällen zu minimieren, wurde die Zahl der Geldtransporte möglichst niedrig gehalten“ (281f.).Es sind keine Fälle bekannt, in denen Transferunternehmer durch Milizen oder Banden ausgeraubt wurden. Gleichzeitig wurden die Klangrenzen durch die Alltagsgeschäfte wieder lockerer.
Drogengeschäfte
Ihr zweites Beispiel bezieht sich auf die Vermarktung der Droge Khat, nach Zucker das quantitativ größte Importprodukt Somalias. Der gemeinschaftliche Konsum von Khat (von Männern!) hat eine hohe soziale Bedeutung und ist weit verbreitet. Khat hat allerdings die interessante Eigenschaft, dass es spätestens 48 Stunden nach seiner Ernte die Wirkung verliert. Seit 1983 Khat in Somalia verboten wurde, blühte der Schmuggel. Zwar ist die Droge seit 1990 wieder legalisiert, doch die Hauptanbaugebiete liegen weiterhin in Kenia und Äthiopien. Von dort aus überziehen weiträumige Handels- und Vermarktungsnetzwerke weite Teile Ostafrikas inklusive Somalia und andere Länder mit nennenswerter somalischer oder jemenitischer Diaspora. Selbst während der Eskalation der Gewalt 1991/92 wurde Khat als nahezu einziges Produkt importiert und flächendeckend im Land verteilt.
Das in den frühen Morgenstunden in Zentral-Kenia geerntete Khat wird entweder über Land direkt in die südsomalischen Kriegsgebiete gebracht oder über Nairobi per Flugzeug importiert. Die Landtransporte von Kenia in die somalischen Städte und Dörfer müssen bis zu 1.000 km auf nur wenig befestigten Straßen zurücklegen und befinden sich in einem beständigen Wettlauf mit der Zeit. Auf der Strecke werden vielfältige Abgaben fällig: kenianische Polizisten und Zöllner sowie somalische Gewaltakteure halten die Hand auf. So trägt Khat – wie andere Handelsgüter auch – zu einer Finanzierung der Gewalt bei. Eine besondere Bedeutung hat Khat aber aufgrund der hohen Umschlagsmenge und -geschwindigkeit sowie des hohen Preises.
Khat wurde früher zur Freizeitgestaltung, für Aufbau und Pflege von sozialem Kapital und für den Informationsaustausch genutzt, der Konsum war sozial eingebunden. Diese Eingebundenheit ist im Krieg immer mehr verloren gegangen. Heute wird der Konsum mit dem Bild des rücksichtslos plündernden, gegenüber Menschenleben indifferenten Bandenmitglieds assoziiert. Von islamischen Gruppen wird die Droge als unreligiös kritisiert, Ökonomen und internationale Organisationen kritisieren hohe Kosten und unproduktive Zeit, Frauen beklagen ihr dezimiertes Haushaltsbudget. Gleichzeitig ist nicht zu vernachlässigen, dass ein großer Teil der somalischen Bevölkerung vom Khat-Handel zumindest zum Teil lebt.
Geschäfte mit Not- und Entwicklungshilfe
Beispiel drei beschäftigt sich mit der Not- und Entwicklungshilfe: Mit dem Ende von UNOSOM 1995 stellten die meisten internationalen Organisationen ihre Arbeit in Somalia ein. Erst mit der langsamen Etablierung des Transitional Federal Government (TFG, Föderale Übergangsregierung) zwischen 2002 und 2005 stieg auch die Entwicklungsilfe für Somalia wieder an. Über die Hälfte der nach Somalia fließende Entwicklungshilfe stammte dabei von drei Geldgebern: EU, USA, Norwegen.
Die Aktivitäten der in Somalia tätigen internationalen Organisationen und NGO’s wurden nicht koordiniert. Ein Austausch fand bestenfalls sporadisch und abhängig vom persönlichen Engagement Einzelner statt. Aus Sicherheitsgründen richteten die internationalen Organisationen ihre Hauptquartiere in Nairobi ein und reduzierten ihren in Somalia aktiven internationalen Mitarbeiterstamm auf ein Minimum. Projekte wurden in der Regel in Kenia konzeptioniert und geleitet und von in Somalia rekrutierten einheimischen Personal, privaten Unternehmen oder lokalen NGO’s durchgeführt. Bakonyi beschreibt anschaulich, wie diese Arbeitsweise zum Aufstieg einer Vielzahl „lokaler Intermediäre“ führt und die lokalen Machtverhältnisse neu ordnet.
Eine besondere Priorität gewann die Frage der Sicherheit für Personal, Gebäude und Einrichtungen. Die Milizen konnten auf zweierlei Art und Weise von der Situation profitieren: auf der einen Seite stellten sie gegen sehr gute Bezahlung („drei mal höher als lokal übliche Sätze“ (317)) Wachleute, auf der anderen Seite konnten sie von der umsorgten Bevölkerung erhebliche „Schutz-“Abgaben einziehen. Auch die Vermietung von Geländewagen war ein sehr einträgliches Geschäft. Gleichzeitig führte die angespannte Sicherheitssituation zur Abschottung des internationalen Personals innerhalb eines durch scharfe Kontrollen gesicherten „Buschbüros“. „Strategisches Nichtwissen und das Ausbalancieren von Informationen charakterisierte die Arbeit der Buschbüros“ (323):
- „Strategisches Nichtwissen“ über die realen Machtverhältnisse in ihrer Projektregion und die Rolle ihrer unterschiedlichen Projektpartner innerhalb dieser Machtverhältnisse erleichterte für die Internationalen die Bewältigung ihrer vielschichtigen Aufgaben und förderte die weitere Entwicklung dieser Machtverhältnisse. Durch den rhetorischen Bezug auf die „Local Community“, der eine Egalität suggerieren sollte, die unter den Bedingungen des jahrelangen Kriegs schon längst unter die Räder gekommen war, wurde diese Machtpolitik gezielt verschleiert.
- Weil lokale Projektmitarbeiter wie das in Nairobi angesiedelte Management keinerlei Interesse daran hatten, dass ihre Projekte nicht fortgeführt werden, wurden alle Informationen über negative Aspekte gezielt unter den Teppich gekehrt. Auch hier spricht Bakonyi von „strategischem Nichtwissen“ als Voraussetzung für eine „erfolgreiche“ Entwicklungshilfe: „ein gewisses Maß an List und Täuschung“ (322) auf allen Ebenen der Entwicklungszusammenarbeit.
Allerdings, so räumt Bakonyi ein, komme der Entwicklungshilfe weder in politischer noch in ökonomischer Hinsicht eine durchschlagende Bedeutung zu. Mit Ausnahme der Lebensmittelhilfen, die hohe Gewinne bedeuteten und für die Milizen bald zu einer ihrer einträglichsten Geschäfte wurde.
2006 endet ihr Untersuchungszeitraum. In einem Epilog fasst Bakonyi die Ereignisse der Jahre 2006-2010 zusammen.
Diskussion
Bakonyi belegt mit ihrem Buch eindrucksvoll, dass massenhafte Gewalt Organisierung braucht. Der Aufbau wie der Erhalt einer Gewaltorganisation setzt organisatorische Fähigkeiten, ökonomisches und soziales Kapital voraus. Dass die Akkumulation von ökonomischen Kapital mit der „Ausdehnungs- und Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus“, dh. mit imperialistischer Machtpolitik zu tun hat, beschreibt sie zwar implizit am Beispiel der Entwicklungshilfe. Über die Rolle imperialistischer Interessen „im Aufeinandertreffen von bürgerlich-kapitalistischen und traditionalen Formen der Vergesellschaftung“ als Auslöser, Anstifter und Mäzen des Massenmordens schweigt sie beharrlich. Imperialistische Politik6, so ist der von ihr vermittelte Eindruck, fördert zwar die Gewaltordnung, aber nicht absichtsvoll und gezielt, sondern eher als unbedachte Begleiterscheinung ehrenwerter „humanitärer“ Absichten.
So kommt sie auch nicht auf die naheliegende Frage, ob die relativ erfolgreiche Geschichte Somalilands nicht gerade deswegen möglich war, weil internationale Einmischung weitgehend ausblieb.
Statt dessen bleibt Bakonyi in der Widersprüchlichkeit ihrer ethnisierenden Erzählung gefangen: die Richtung der Gewalt sei durch die auf dem Klan ruhende Organisierung des Aufstandes geprägt, ist ihre Hauptaussage. Zentral für ihre Argumentation ist, dass sie das Muster des Klans als überhistorisch betrachtet. Zwar beschreibt sie die Dynamik und die Widersprüchlichkeit im Umgang mit den Klans anschaulich. Aber in ihren Schlussfolgerungen kommt beides nicht vor.
Die ethnisierenden Morde nach dem Sturz von Barre führten erst dazu, dass der Klan nach und nach zur einzigen Lebensversicherung wurde. Bakonyi verleugnet diese real verübten Massenmorde als Auslöser für weitere Gewalttaten, indem sie schreibt „Gerüchte lieferten bald eine neue Rechtfertigung für die Gewalt“ (161). Es mögen in vielen Fällen Gerüchte im Spiel gewesen sein, in den meisten wohl eher Übertreibungen, häufig – wegen der Monströsität der Ereignisse – aber auch Untertreibungen. Doch ohne real Ermordete und Traumatisierte hätten diese Erzählungen nicht diese Kraft und Gewalt entwickeln können.
Andererseits beschreibt sie, wie die gemeinsamen Erfahrungen von Massaker und Plünderungen eine neue Faktizität schufen: die Identifizierung als Mitglieder dieser oder jener Klangruppe konnte „nun (Hervorhebung izindaba) über Leben und Tod eines Menschen entscheiden“ (163). „Auch Personen, die vorher der Vermischung kultureller und politischer Praktiken und Zuschreibung skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber standen, begannen sich nun für >ihre< Klangruppen zu engagieren.“ (332). Der Klan, seit dem Zweiten Weltkrieg auf dem absteigenden Ast, erfährt eine Renaissance als neue Ordnungsmacht im zerfallenden Staat.
Dass der Bezug auf Traditionen dabei mythisch überhöht wird und der Klan im 3. Jahrtausend nur wenig mit dem Klan historischer Ordnung zu tun hat, erwähnt sie nicht. Dagegen beschreibt sie, wie moderne klanbasierte Narrative gegen die Rückständigkeit der historischen Ordnung, das „nomadische Andere“ (177) und „den Busch als Quelle von Gefahr, Unordnung, Rückständigkeit und Banditentum“ hetzen. Mit Tradition haben diese modernen Sichtweisen wenig zu tun.
Besonders deutlich wird der Bedeutungswandel des Klans in der Geschichte von Orphan. Orphan ist in einem Waisenhaus in Mogadischu aufgewachsen. Schon die Existenz des Waisenhauses deutet auf die Erosion der alten Ordnung hin. Im alten Somalia kümmerten sich die Angehörigen um die Waisen. Nach dem Zerfall des Staates schloss Orphan sich mit zwanzig anderen Waisen aus der selben Einrichtung zusammen. Klanzugehörigkeit war für sie kein Thema. Sie stahlen bei einem verlassenen Sicherheitsdienst einen LKW und mehrere Autos und organisierten ihre eigene Miliz. Aber sie mussten schnell lernen, dass sie alleine keine Chance hatten, und so verbündeten sie sich mit dem einflussreichen Geschäftsmann Cismaan Cato, der engstens mit dem mächtigen Warlord General Aidid verflochten war. Für Cato übernahmen sie eine Straßensperre in Mogadischu, im Gegenzug versorgte er sie mit Drogen, Zigaretten, Lebensmitteln und Waffen. Und vor allem sorgte er für ihren Schutz.
Doch die Zeiten änderten sich. Als der Druck jener Milizen, die zunehmend ihre Inklusions- und Exklusionspolitik im Rahmen von Klanzugehörigkeit definierten, zu groß wurde, konnte auch Cato seine Jungs nicht mehr schützen. Erst da bekam die Klanzugehörigkeit für sie eine Bedeutung, weil sie jetzt nur noch der Klan schützen konnte. Die Jungs verstreuten sich in alle Himmelsrichtungen, ein jeder ging zu „seinem Klan“. Wobei auch der Begriff „sein Klan“ relativ ist. Orphan, der uns als Mitglied des Digil/Dabarre Klans vorgestellt wird, schließt sich einem ganz anderen Klan an, den Marexaan. Er schlussfolgert: „Wir kamen alle aus dem Waisenhaus und wir haben uns niemals über unsere Klans unterhalten, aber durch die Umstände waren wir gezwungen unseren Klan kennen zu lernen“. Dieses Beispiel zeigt m.E. recht deutlich, wie Klanidentitäten im Krieg erschaffen und durchgesetzt werden und nicht einfach „traditionelle Zugehörigkeiten“ darstellen.
Es bleiben vier weitere Punkte, die kritisch anzusprechen sind:
Bakonyi versucht die Geschichte der klanbasierten Gewaltgruppen und der neu entstandenen islamischen Milizen nachzuzeichnen. Dadurch, dass es immer wieder zu Spaltungen und Bündnissen und erneuten Spaltungen und Bündnissen kommt, ist das nicht immer einfach nachzuvollziehen und kaum überprüfbar – für das Verständnis der sozialen und ökonomischen Prozesse aber auch nicht zentral.
Schade ist, dass in dem Buch die Sicht der (weiblichen) Zivilbevölkerung völlig fehlt. So schreibt Bakonyi beschönigend: „Eine massenhafte Mobilisierung von Menschen gelingt dennoch häufig erst im Anschluss an spektakuläre oder dramatische Ereignisse“ (329). Was sie „spektakuläre oder dramatische Ereignisse“ nennt sind Massenmorde, Massenvergewaltigungen, Vertreibungen!
Die einzigen Frauen, die sie für das Buch interviewt, sind einige ehemalige Kombattantinnen und eine einflussreiche Geschäftsfrau. Interessant ist allerdings, dass sie behauptet, viele Frauen begrüßten die Einführung des Sharia-Rechts in den 90er Jahren, weil es Frauen neue Rechte einräume, Schutz vor Misshandlungen durch Ehemänner und männliche Verwandte biete, sowie Genitalverstümmelung und Vergewaltigung unter Strafe stelle, was sie jedoch nicht weiter belegt.
Darüber hinaus geht Bakonyis „Politologensprech“ auf die Nerven. Ganz besonders daneben liegt sie, wenn sie die Verwaltungsstrukturen in dem zerfallenden Somalia an Max Webers Ansprüche an eine moderne Verwaltung misst. Ohne zu reflektieren, dass Weber seine Thesen zur Verwaltung unter und für bestimmte gesellschaftliche Bedingungen entwickelte, stellt sie diese als das Modell dar, an dem sich afrikanische Verwaltung zu messen habe; eigentlich stellt sie es so dar, als ob sich Verwaltung weltweit an Weber zu messen habe. Dass dort vielleicht andere Traditionslinien und Ansprüche zu verarbeiten sind als in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts scheint ihr dabei genauso zu entgehen wie der rassistische Gehalt ihrer Aussage.
Wie in der aktuellen Politikwissenschaftlich üblich, kommt imperialistische Gewalt nicht als strukturelles Gewaltverhältnis, sonder lediglich als gescheiterte gute Absicht vor. Dass auch Leute in den westlichen Ländern prächtig am Krieg in Somalia verdienen, und welche Interessen es hier an der Aufrechterhaltung des Krieges geben könnte, sind kein Thema im Buch.
Fazit
Trotz dieser kritischen Einwände hat Jutta Bakonyi ein sehr lesenswertes Buch vorgelegt, mit dem sie einen tiefen Einblick in das Leben im Krieg und jenseits des Staates gewährt. Zentral ist ihre Darstellung der „politischen Ökonomie des Chaos“, einer Gewaltökonomie, die sich vor allem aus den verschiedenen Formen von Plünderungen speist und das soziale Leben in Somalia nachhaltig verändert. Besonders aufschlussreich sind die Beschreibungen der wirtschaftlichen Beziehungen an Hand der Beispiele Xawilad, Khat und Entwicklungshilfe. Hier wird deutlich, wie sich im Krieg und jenseits des Staates eine neue Gesellschaftlichkeit herstellt. Das eröffnet ein differenziertes Bild vom Leben im „gescheiterten Staat“ Somalia.
Die Stärke des Buches ist die dichte Beschreibung, eher schwach ist die politischen Einordnung.
1Die Republik Somaliland ist ein praktisch unabhängiger, international aber nicht anerkannter Staat in Ostafrika, der den Nordteil Somalias – das ehemalige Kolonialgebiet Britisch-Somaliland – umfasst. Somaliland hatte sich nach seiner Unabhängigkeit von Großbritannien 1960 mit Italienisch-Somaliland zu Somalia vereinigt. Am 18. Mai 1991 erklärte Somaliland sich einseitig für unabhängig, als die somalische Regierung gestürzt worden war und der Bürgerkrieg in Somalia eskalierte. Seither hat es seine politische Stabilität weitgehend gewahrt.
2Siehe: Conrad, Burkhard: Zur Ungleichzeitigkeit in der Weltgesellschaft. Erkenntnistheoretische Kommentare zur Kriegsursachenforschung. Arbeitspapier 1/2002 der Forschungsstelle Kriege, Rüstung und Entwicklung, Universität Hamburg 2002; Online-Version (pdf)
Jung, Dietrich; Schlichte, Klaus; Siegelberg, Jens: Kriege in der Weltgesellschaft. Regionalspezifische Analysen und strukturgeschichtliche Erklärung der Kriege 1945-2000, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003
3Das Klansystem besteht aus bis zu 1.000.000 Menschen umfassende Klanfamilien (davon soll es in Somalia fünf bis sechs geben, je nach Klassifizierung). Die Klanfamilien unterteilen sich entlang des Abstammungsprinzips in Klans, Subclans, der primären Lineage (einige Hundert bis mehrere Tausend Menschen) und der Blutzollgruppe. Das System ist jedoch nicht starr, sondern ist grundsätzlich offen für die Integration Fremder (ausführlich dazu Seite 101f.)
4Bakonyi überträgt die somalischen Begriffe und Eigennamen aus der arabischen Schriftsprache in die lateinische auf phonetisch korrekte Art und Weise, was aber nicht unbedingt den hier üblichen Schreibweisen entspricht. Das macht das Buch nicht unbedingt leichter verständlich. Um weitere Konfusionen zu Vermeiden, werden hier die üblichen Schreibweisen übernommen, z.B. Ali Mahdi statt Cali Mahdi (Bakonyi), Hawala statt Xawilad, Khat statt Qaat.
5In Anlehnung an Horkheimer versteht Bakonyi „Racketeering“ als Arrangement, „indem dieselben Akteure zunächst Unsicherheit und Gewalt verbreiten, um dann Schutz vor eben diesen Unsicherheiten anzubieten“ (239). Elias und Tilly beschrieben die Staatsbildungsprozesse in Europa als Folge von Racketeering.
6Den Begriff „Imperialismus“ verwendet sie nicht.