„Der indische Ozean war niemals einfach nur ein leerer Raum mit sehr viel Wasser, in dem gelegentlich mal ein Fisch vorbeischwimmt“ (S. 7). Ralph Klein begreift den Ozean als Raum des sozialen, kulturellen und ökonomischen Austauschs mit einer Vielzahl legaler und illegaler Ökonomien, von denen die somalische Piraterie nur eine ist: Für die Reeder sei das Meer eine Wasserstraße, für die Matrosen auf den Schiffen sei es bedeutungslos, für die Fischer Subsistenzgrundlage, für die Festlandbewohner_innen ein Raum der Projektionen und Sehnsüchte, für Piraten Gefahr und Chance und für den Wind „Genosse, Spielgefährte und Verbündeter“ (S. 9). Nur für die Marinesoldaten und Kriegsschiffe sei das Meer ein leerer Raum, der in seiner Leere viel zu viel Verstecke bietet und deswegen möglichst perfekt überwacht werden müsse.
Ausgangspunkt von Kleins Erzählung ist die Europäische Kolonialisation, die den Ozean in eine geostrategische Arena militärischer und ökonomischer Kämpfe verwandelt habe. Dabei ist Erzählung wahrscheinlich das falsche Wort, weil der Historiker Klein viele Geschichte von früher und heute mosaikartig zu einem bunten wenn auch nicht widerspruchsfreien Bild der zeitgenössischen somalischen Piraterie zusammenfügt.
Einzelne zentrale Aspekte aus diesem Mosaik seien an dieser Stelle kurz ausgeführt:
Soziale Eingebundenheit: Im Mittelpunkt seines Interesses steht die Gesellschaftlichkeit, aus der die Piraten stammen und die sie trägt: „Die Unterstützung der Communities ermöglicht erst die piratischen Unternehmungen“ (S. 17). Kleins betont den traditionell egalitären Charakter der somalischen Clans („Clans haben keine Chefs“ S. 45) und weist auf den sozialen Charakter der Clanstrukturen hin. Denn Clanzugehörigkeit ist keinesfalls von Geburt ein für allemal festgelegt ist: „Leute schließen sich zu Clans zusammen, Clans vereinigen sich, brechen wieder auseinander und schließen sich spontan erneut zusammen“ (S. 45). So können auch Piraten jederzeit temporäre und multi-clannish Subclans bilden, die traditionellen Gewohnheitsrechten, z.B. zur Regelung von Konflikten, unterliegen.
Piraterie als Form von Lohnarbeit: Klein sieht die Piraterie vor Somalia als eine vorübergehende und prekäre, aber vielerorts akzeptierte Form von Lohnarbeit ist. Dabei lehnt er Verallgemeinerungen ab. „Jede Crew ist anders organisiert, jede Gruppe und jeder Pirat hat andere Motive“ (S. 63). Behauptungen, die Piraterie sei von außen finanziert und gesteuert hält Klein für rassistisch, weil sie Somalis „Cleverness, ökonomisches Geschick, Organisationstalent und strategisches Handeln“ (S. 80) absprechen würde.
Modernisierung: Boossaso, das vor wenigen Jahren ein kleines Fischernest mit ca. 20.000 Einwohner_innen war, ist heute dank der Piraterie ein Boomtown mit schätzungsweise 250.000 Einwohner_innen. Am piratischen Wirtschaftsaufschwung profitiert der größte Teil der puntländischen Bevölkerung, gleichzeitig sind in den Piratennestern traditionelle Werte und Lebensweisen auf dem Rückzug.
Ein sozialer und ökonomischer Konflikt wird gezielt militarisiert: Klein beschreibt anschaulich, wie ein sozialer und ökonomischer Konflikt gezielt militarisiert wird. Mehr als dreißig Staaten haben Kriegsschiffe entsandt haben und lassen Milliarden für das Militär springen. Doch wenn die Armada ein Seegebiet halbwegs unter Kontrolle hat, weichen die Piraten einfach auf ein anderes aus. Private Söldnerheere und Versicherungsunternehmen verdienen Unsummen während der Westen das auf Seiten der Piraten relativ niedrige Gewaltniveau gezielt eskaliert: die Zahl erschossener, versenkter oder ertrunkener Piraten steigt ständig, bei den meisten Todesfällen unter den Maritimen Arbeitern (insgesamt ca. ein Dutzend) bleibt meist unklar, ob sie von Soldaten oder Piraten getötet wurden.
Piraten als Sozialbanditen: Nach Klein changiert die Piraterie zwischen sozialem Banditentum im Sinne Hobsbawms, „(Arbeits-)Kampf um ein besseres, ein angemessenes Einkommen für den Sozialverband und dem individuellen Verlangen nach dem Wohlstand der weiß-westlichen Mittelschicht“ (S. 120). Als Folge der von den Piratenjägern in Gang gesetzten Gewaltspirale sieht er eine steigende Tendenz in Richtung autoritärer Befehls und Gehorsam-Strukturen bei den Piratencrews.
Darüber hinaus beschreibt Klein ausführlich die Situation in Somalia (S. 34ff.) die Lage der Maritimen Arbeiter (82ff.), geht auf die Problematik der Strafverfolgung von Piraten ein (103ff), kritisiert den repressiven und neokolonialen Staatsaufbau in Somalia, der gerade im Gange ist (109f.) und prangert das Netzwerk aus politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Thinktanks an.
Zwischendurch geht Klein immer wieder auf historische Begebenheiten ein. Er beschreibt, wie in Somalia bereits vor gut 200 Jahren mit der Ausweitung des Seehandels die Piraterie intensiver betrieben wurde. Pirat zu sein galt damals „an der somalischen Küste als ganz normaler durchaus angesehener Beruf, der ausschließlich den geschicktesten Seefahrern vorbehalten war“ (S. 28). Die Piraterie transformierte die Ökonomie Somalias teilweise von einer regionalen an die knappen natürlichen Ressourcen angepasste Subsistenzökonomie in eine viehproduzierende exportorientierte Landwirtschaft. Ein steigender aber ungleich verteilten Wohlstand wurde geschaffen: die einen wurden reich, die anderen verhungerten, weil der Zwang zur Exportwirtschaft traditionelle Strategien der Bewältigung von Trockenperioden aushebelte. Den Kolonialmächten diente die Piraterie als Legitimation für die Kolonialisierung Somalias ab 1880.
In Deutschland hatte Piraterie im 19. Jahrhundert ganz andere Auswirkungen: nachdem 1817 afrikanischen Piraten mehrere deutsche Schiffe vor der Nordseeküste gekapert hatten wurde die wut- und hasserfüllte Hilflosigkeit gegenüber den Seeräubern in den deutschen Ländern eine der treibenden Kräfte zum Aufbau einer gesamtdeutschen Kriegsflotte und zur Errichtung des Bürgerlichen Nationalstaates von 1871 ( S. 22ff.).
Kritisch anzumerken bleibt, dass einzelne historische Exkursionen etwas oberflächlich daher kommen, wie z.B. eine Schilderungen der Vitualienbrüder um Klaus Störtebeker, der zumindest ein Quellennachweis gut getan hätte. Auf Seite 30 bringt Klein Papst Johannes XXIII ins Spiel. Er meint damit aber nicht Angelo Giuseppe Roncalli, der von 1958 bis 1963 als Papst Johannes XXIII residierte, sondern den wesentlich unbekannteren Baldassare Cossa, der von 1410 bis 1415 als Gegenpapst denselben Namen benutzte. Ein kleiner Hinweis wäre hier für die Kirchengeschichtlich nicht so firmen Leser_innen sicherlich hilfreich gewesen.
Außerdem hat Puntland – anders als Somaliland 1991 – nie die staatliche Unabhängigkeit erklärt, wie Klein behauptet (S. 41), sondern sich stets als autonomes Gebiet innerhalb des Somalischen Nationalstaates definiert.
Als dritter und letzter Kritikpunkt bleibt, dass Klein zwar sehr stark auf die sozialen und ökonomischen Auseinandersetzungen eingeht, aber die Rolle des Militärischen bei der (angestrebten) Modernisierung der somalischen Gesellschaft, bei der Zerschlagung der Alten und Durchsetzung einer neuen Gesellschaftlichkeit, vernachlässigt.
Insgesamt legt der Verfasser ein informatives, faktenreiches und gut lesbares Buch über die aktuellen Auseinandersetzungen im Indischen Ozean vor. Er verhehlt weder seine Sympathie für die Armen in der somalischen Gesellschaft – zu denen auch zumindest teilweise die Piraten gezählt werden können – noch für die maritimen Arbeiter. Gleichzeitig setzt er sich mit der Widersprüchlichkeit des piratischen Tuns auseinander. Für jene, die sich bislang wenig mit der Piratie vor Somalia beschäftigt haben, wird es ein guter Einstieg sein. Doch auch für Expert_innen bietet es reichhaltig originelle Hinweise und überraschende Zusammenhänge.
Wer jenseits des drögen Einheitsgewäschs der mittlerweile boomenden Piratenliteratur – kein Wunder bei dem Ausmaß der von Klein beschriebenen Netzwerke aus politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Thinktanks – sich kritisch und dem Essay-Charakter entsprechend auch durchaus unterhaltsam über die somalische Piraterie informieren will, wird an diesem Buch kaum vorbei kommen.