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Das Massaker von Marikana aus Sicht der Streikenden

Widerstand und Unterdrückung von Arbeiter_innen in Südafrika

Die Geschichte des Streiks und des Massakers an der Lonmin-Platin-Mine in Marikana (Südafrika) im August 2012 aus Sicht der Streikenden aufgezeichnet zu haben, ist das große Verdienst von Peter Alexander, Thapelo Lekgowa, Botsang MMope, Luke Sinwell und Bongani Xezwi. Sie haben sich kurz nach dem Massaker mit Überlebenden und Angehörigen getroffen, um die Stimme der ansonsten im Medienrauschen meist Stimmlosen öffentlich zu machen. Die Berichte der Medien über das Massaker beruhten nur zu 3% auf Darstellungen der Arbeitenden, wie eine Sozialwissenschaftlerin nachgewiesen hatte. Die Autor_innen wollen diese Stimmen hörbar machen, um vom Wissen der Arbeiter_innen zu lernen. Aus den vielen Interviews die sie geführt haben, haben sie ein großartiges Buch zusammengestellt: „Marikana. A View from the Mountain and a Case to Answer“ und im Dezember 2012 veröffentlicht.

Einer kurzen Einführung folgt ein ausführlicher Bericht des Ereignisse an der Lonmin-Mine, der auf den Interviews mit den streikenden Arbeiter_innen beruht.

Im Anschluss kommen Hintergrundinterviews mit dem Präsidenten der Gewerkschaft AMCU, einem Bohrhauer und einer Frau eines Minenarbeiters, sowie zwei Ansprachen von Streikführern und einer Rede des AMCU Generalsekretärs unmittelbar nach dem Massaker. Sie befragten den Präsidenten der AMCU aber seltsamerweise weder zu seiner widersprüchlichen Rolle im Konflikt noch zu seiner Einschätzung vom Nachmittag des 16. August 2012, dass es Tote geben werde (s. Chronologie). Wesentlich interessanter (und kürzer) sind die Schilderungen des Bohrhauers über seine Arbeitsbedingungen und der Frau eines Minenarbeiters.

Der Hauptteil des Buches sind knapp siebzig Seiten Interviews mit Minenarbeiter_innen. Unterstellt, dass die Interviews nicht geglättet sind, ist auffällig, wie wenig sich die einzelnen Interviewten bei der Schilderung der Ereignisse widersprechen. Ihre Verständlichkeit wird durch dem Buch vorangestellte Karten erhöht, die auf den ersten Blick etwas unübersichtlich wirken, aber beim Lesen die Ereignisse plastischer werden lassen. Schwerpunkt der Darstellungen ist die Selbstorganisierung der Arbeitenden:

  • Als die Arbeiter_innen am Anfang des Streiks zusammen kamen, wählten sie ein Komitee von verdienten Arbeiter_innen. Dieses Komitee wirkte allerdings nur nach innen. Es war das erste Mal, dass sie bei einem Streik so ein Komitee gewählt hatten, sonst hatten wohl immer Gewerkschaftsvertreter diese Rolle inne (vgl. S. 121).
  • Nach außen wollten sie keine Vertreter_innen haben. Sie hatten 2011 die Erfahrung gemacht, dass ihre Vertreter_innen sofort mit Entlassung bedroht würden. „Wir waren der Ansicht, dass es nicht so leicht wäre, alle Bohrhauer zu feuern als fünf gewählte, einfache Leute“ (S. 133).
  • Alle interviewten Arbeiter_innen grenzten sich von den Gewerkschaften ab. Wenn die Medien behaupten, dass hier die Gewerkschaften kämpfen, dann sind das Lügen, wird ein Arbeiter zitiert: „Hier kämpfen einzig die Arbeiter_innen!“ (S. 115). Immer wieder wird betont: Wir wollen hier keine Gewerkschaften, egal welche! Unterstützt fühlten sie sich lediglich von Kirchenleuten und traditionellen Chiefs aus der Gegend: „Die einzigen, die immer noch darauf aus waren, uns mit dem Arbeitgeber zusammen zu bringen“ (S. 114).

Peter Alexander benennt in der anschließenden Analyse der Ereignisse Polizei/ Regierung, Lonmin und die ANC-nahe Gewerkschaft NUM als Schuldige an dem Massaker. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „Gewaltdreieck“. „Die Hauptkraft, die den Zusammenhang des Gewaltdreiecks stützte, waren nicht unmittelbar materielle Interessen, sondern es war vielmehr eine Frage des Prinzips: … das Regime der Arbeitsbeziehungen“ (S. 190). Indem die Arbeiter unter Umgehung der Gewerkschaft_innen verlangten, direkt mit den Bossen zu sprechen, griffen sie dieses Regime, das auf der guten Kooperation zwischen Staat, Gewerkschaft und Kapital beruht, direkt an. Durch weitere von der Basis ausgehende Streiks in anderen Minen wurde dieser Angriff verstärkt.

Heute ist dieses Regime der Arbeitsbeziehungen genauso in der Krise, wie die traditionelle Regierungsallianz aus ANC, Kommunistischer Partei und Gewerkschaftsdachverband COSATU (die NUM ist der zweitgrößte Gewerkschaftsverband bei COSATU). Am 19. Dezember 2013 hatte ein Sonderkongress der Metallarbeitergewerkschaft NUMSA, anlässlich der kommenden Wahlen einstimmig eine programmatische Absage an die Dreierallianz von ANC, KP und beschlossen. Die NUMSA ist immerhin die größte Gewerkschaft innerhalb COSATU.

Deutlich wird auch, dass das „Gewaltdreieck“ in der vermeintlichen „Regenbogennation“ vor rassistischen Zuschreibungen nicht zurückschreckt und die Streikenden als „Wilde“ diffamiert.

Die deutsche Ausgabe wurde um einen Beitrag zur historischen Kontextualisierung der Ereignisse für Leser_innen, die mit den südafrikanischen Verhältnissen wenig vertraut sind, ein Nachwort (beides vom trotzkistischen Prof. Peter Alexander) und ein umfangreiches Glossar ergänzt.

Das Buch ergreift Partei, beschuldigt, klagt an und benennt Verantwortliche. Doch drei Punkte sind kritisch anzumerken:

  1. Weder im Streik, noch im Buch wurde die unbezahlte Reproduktionsarbeit von Frauen, die die niedrigen Löhne erst möglich machen, thematisiert  (siehe: Kurz recherchiert: In Marikana geht es um mehr als um einen Streik für höhere Löhne) .
  2. Obwohl in den Interviews stets eine Ablehnung der Gewerkschaften zum Tragen kommt, die sich auch auf die AMCU bezieht („Wir wollen hier keine Gewerkschaften“) steuert Alexander einen Pro-AMCU-Kurs (z.B.: „Die AMCU bietet den Arbeiter_innen zwei große Vorteile“ S. 200). Das vom Aufstieg der AMCU mehr zu erwarten ist, als dass ein neuer Akteur im „Gewaltdreieck“ aktiv wird, kann bezweifelt werde. Einzig mit der Sympathie für AMCU lässt sich auch erklären, dass das Interview mit dem AMCU-Präsidenten ins Buch gekommen ist. Insgesamt ist dieses Interview eine unangenehme Selbstdarstellung. Das hat aber immerhin den Vorteil, dass klar wird, was für ein eitler Fatzke der Typ ist – sein Lieblingswort ist auf jeden Fall „ich“.
  3. Die Autor_innen bemühen sich zu beweisen, dass die Befehle für das Massaker „von ganz oben“ gekommen sind (siehe dazu auch das Interview mit dem Übersetzter und dem Herausgeber der deutschen Ausgabe in der jungle world). Die Indizien, die sie dazu anführen, lassen aber vielmehr darauf schließen, dass es durch die Toten im Vorfeld zu einer kumulativen Eskalation kam. Das der Polizei zwanzig Jahre nach der Apartheid angesichts von zwei toten Kollegen jegliche „Beißhemmung“ abhanden gekommen ist, ist sicherlich ein Skandal und macht deutlich, dass so eine Polizei nicht zu reformieren ist. Dass ihnen von der Politik durch die Diffamierung der Streikenden signalisiert wurde, dass sie für das Töten grünes Licht haben, ist sicherlich ein zweiter Skandal. Ein Befehl zu einem Massakers ist aber was anderes.
    Damit soll nicht behauptet werden, dass das Massaker nicht „von ganz oben“ befohlen wurde. Aber die Belege, die präsentiert werden, sind zu dünn.

Diese Kritikpunkte beeinträchtigen aber nicht den Kern des Buches, die Darstellung der Selbstorganisierung der Arbeiter_innen aus der Sicht der Arbeiter_innen selber. Die Autor_innen haben ein großartiges Stück Arbeiter_innengeschichte aufgeschrieben. Eine kämpferische Linke kann nur durch die Erfahrungen der Kämpfenden Gesellschaft verstehen und verändern. Ich wünsche mir mehr solche Projekte über Kämpfe in Afrika und anderswo – und viele Leser_innen für dieses wichtige Buch. UMLUNGU

ALEXANDER, Peter / LEKGOWA, Thapelo / MMOPE, Botsang / SINWELL, Luke / XEZWI, Bongani:

Das Massaker von Marikana
Widerstand und Unterdrückung von Arbeiter_innen in Südafrika. Herausgegeben von Jakob Krameritsch und übersetzt von Werner Gilits
260 Seiten; 19.90 €; ISBN: 978385476-628-5
Erschienen bei Mandelbaum in der Reihe kritik & utopie,

Wien, November 2013

Die Marikana Solidarity/Support Campaign setzt sich für die Familien der getöteten Arbeiter, für die vielen Verletzten und die hunderten Verhafteten ein. Sie finanziert deren juristische Vertretungen bei der staatlich eingerichteten Farlam-Kommission. Sie unterstützt die Arbeiter_innen in ihrem Kampf für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen und darin, Gehör für ihre Anliegen zu finden. All das kostet Geld.

Überweisungen bitte an das dafür eingerichtete, österreichische Spendenkonto:

Lautend auf: J. Krameritsch, Bank Austria

IBAN: AT161200010004742457

BIC: BKAUATWW

Verwendungszweck: „Marikana Support Campaign“

Weitere Informationen: http://marikanabuch.wordpress.com/ und www.marikana.info

Chronologie des Massakers von Marikana im August 2012

Donnerstag 9. August 2012: Die Bohrhauer der Lonmin-Platin-Mine in Marikana versammelten sich und beschlossen, für einen Monatslohn in Höhe von 12.500 Rand zu streiken. Sie konnten damals weder ahnen, dass sie durch ihren Kampf den südafrikanischen Staat in die schwerste Krise seit dem Ende der Apartheid stürzen würden, noch dass 34 Kollegen diesen Kampf nicht überleben würden.

Die mit der Regierungspartei ANC verbundene Metallarbeitergewerkschaft NUM unterstützte die Forderung nach Lohnerhöhung nicht, obwohl über die Hälfte der Streikenden in der NUM organisiert waren. Die andere involvierte Gewerkschaft AMCU, in der gut ein Drittel der Streikenden organisiert waren, hatte kein formales Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen. Dieses Recht steht nur der stärksten Gewerkschaft im Betrieb zu und das war eben die NUM. Trotzdem beschlossen die Bohrhauer am folgenden Tag in den Streik zu treten.

Freitag 10. August: Weil die NUM den Streik boykottierte, wendeten sich die streikenden Arbeiter ohne gewerkschaftliche Vertretung direkt an das Büro des obersten lokalen Managements von Lonmin. Sie wurden dort nicht empfangen. Ihnen wurde lediglich gesagt, dass ihre Forderungen von der NUM übermittelt werden müsste.

In der folgenden Nachtschicht wurden weitere Arbeiter in den Streik einbezogen, während die NUM Streikbrecher an ihre Arbeitsplätze brachte, was deren Glaubwürdigkeit nicht gerade erhöhte.

Samstag, 11. August: 2.000- 3.000 unbewaffnete Arbeiter_innen gingen zum NUM Büro, um ihren Fall darzulegen. Vor dem Büro wurden sie von bewaffneten Männern in roten T-Shirts empfangen, darunter einige Mitglieder der lokalen NUM-Leitung sowie bezahlte Wachmänner. Die NUM-Leute schossen auf die Menge. Zwei Männer wurden schwer verletzt. Tagelang hielt sich das Gerücht sie seien gestorben, was sich aber später als falsch heraus stellte.

Die Streikenden besetzten daraufhin einen Hügel in der Umgebung, den Wonderkop Koppie, der für die nächsten fünf Nächte und Tage ihr Zuhause sein sollte und bewaffneten sich mit traditionellen Waffen (Stöcke, Macheten und Speere).

Sonntag, 12. August: Die Streikenden machten sich wieder auf, um bei der NUM zu demonstrieren, diesmal waren einige bewaffnet. Zwei Securities wurden aus ihrem Wagen gezerrt und mit Macheten oder Speeren umgebracht. Im Laufe des Tages wurden zwei NUM-Mitglieder (offensichtlich aus Reihen der Streikenden) erstochen.

Montag 13. August: Die Streikenden erhielten die Information, dass an einem Schacht die Arbeit wieder aufgenommen worden wäre. Eine relativ kleine Gruppe (weniger als 200 Personen) begab sich zu dem Schacht, um von den Arbeitenden zu fordern, dass sie sich dem Streik anschließen. Die Sicherheitskräfte an dem Schacht erklärten den Streikenden aber, dass in dem Schacht niemand arbeiten würde.

Auf dem Rückweg wurde der Gruppe von bewaffneten Polizisten der Weg versperrt, die die Streikenden entwaffnen wollten. Aus Furcht vor weiteren Angriffen der Gewerkschaftsspitze wollten die Streikenden ihre Waffen allerdings erst abgeben, wenn sie wieder zurück am Wonderkop Koppie seien. Daraufhin eröffnete die Polizei das Feuer, im folgenden Tumult wurden drei Streikende und zwei Polizisten getötet.

Die Fotos der beiden toten Polizisten machten rasch die Runde innerhalb der Polizei, vor allem über Handys. Es ist davon auszugehen, dass sie Rachegelüste förderten. Im Laufe des Tages wurde ein weiteres NUM-Mitglied (offensichtlich aus Reihen der Streikenden) erschossen.

Dienstag, 14. August: Ein Polizeiverhandler kam zum Wonderkop Koppie. Die Streikenden bestanden weiterhin auf einem Gespräch mit ihrem Arbeitgeber. Die Polizei sagte, sie werde den Arbeitgeber über diesen Wunsch informieren.

Mittwoch, 15. August: Die Polizei kam ohne Vertreter des Arbeitgebers zurück. Lonmin verweigerte jedes Gespräch mit den Streikenden.

Gegen Sonnenuntergang kam der Präsident der NUM in einem gepanzerten Polizeiwagen. Aus dem Fahrzeug heraus gab er den Streikenden zu verstehen, dass er nur gekommen sei, um die Streikenden aufzufordern, wieder an die Arbeit zu gehen. Sonst werde er mit ihnen über gar nichts sprechen. Die Arbeitenden wiederholten ihre Forderung dass sie mit dem Management sprechen wollten.

Fünf Minuten, nachdem der NUM-Präsident verschwunden war, tauchte der Präsident der AMCU auf. Er sagte, dass er mit den Streikenden sympathisiere, das Management mit ihm aber auch nicht reden würde. Er würde aber am nächsten Tag erneut versuche, mit dem Arbeitgeber zu sprechen.

Im Laufe des Tages hatte sich die Polizeipräsenz verstärkt.

Donnerstag, 16. August: Frühmorgens kamen noch weitere Polizeikräfte an, darunter auch paramilitärische Einheiten.

Am frühen Nachmittag kam der AMCU-Präsident zurück. Er erzählte, dass der Arbeitgeber zu einem vereinbarten Treffen nicht gekommen sei. Auch er forderte die Streikenden jetzt auf, zurück an die Arbeit zu gehen. Wenn sie länger am Wonderkop Koppie bleiben, könnte eine Menge Menschen sterben. Die Streikenden antworteten, dass sie nicht gehen würden und dass sie am Wonderkop Koppie keine Gewerkschaft mehr wollten. Der Gewerkschaftsführer fiel auf die Knie und bat sie zu gehen. Nur wenige folgten seinem Aufruf.

Zwanzig Minuten später folgte das Massaker. Innerhalb von Sekunden wurden sieben Arbeiter vor laufenden TV-Kameras mit automatischen Waffen erschossen. Augenblicke später wurden fünf Männer an einer Wand zerquetscht. Andere wurden von gepanzerten Polizeifahrzeugen überrollt und getötet. Insgesamt zwanzig Arbeiter wurden beim ersten Angriff umgebracht.

Vierzehn weitere Männer, die vom Schlachtfeld geflohen waren, wurden abseits des Geschehen an einem Hügel kaltblütig ermordet. Heute wird dieser Hügel Killing Koppie genannt.

Die zahlreichen Verhafteten mussten Misshandlungen und Folter ertragen.

Das Blutvergießen führte allerdings nicht zum Zusammenbruch des Streiks. Schließlich konnten die Arbeiter eine saftige Lohnerhöhung durchsetzen. Zunächst kam es daraufhin in anderen Minen, später auch in anderen Sektoren zu einer regelrechten Streikwelle.

Nachtrag, Ende Januar 2014: Tausende Beschäftigte in den Platinminen in Marikana haben erneut ihre Arbeit niedergelegt. Sie fordern bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne.