Zusammenfassung eines Artikels zur ‚Krise der Reproduktion‘ in Südafrikas Bergbauindustrie
Die in unserer Buchrezension angesprochenen Auseinandersetzungen um das Massaker von Marikana am 16.08.2012 gehören zweifellos zu den folgenreichsten in der Geschichte der Arbeitskämpfe Südafrikas seit Ende der Apartheid.
Doch wir denken, dass Marikana, ohne einen Blick ‚dahinter‘ auf die absolut miserablen Reproduktionsbedingungen zu werfen, nicht begreifbar ist und haben uns deshalb entschieden, mit einer Zusammenfassung eines Beitrags von S. Hargreaves aus der Peripherie 132 über ‚Das Massaker von Marikana: Unbezahlte Arbeit von Frauen…‘ das Bild über die damaligen Ereignisse zu vervollständigen.
Gleich zu Beginn ihres Beitrags stellt die Autorin fest: „In der Geschichte von ‚Marikana‘ geht es um mehr als einen Streik für höhere Löhne: Es ist auch eine Geschichte der Krise der sozialen Reproduktion. Vernachlässigung durch den Staat und die Gier der Unternehmen haben die Krise in den Haushalten verschärft, die von den Minen bis zu den Herkunftsorten der migrantischen Arbeitskräfte in weit abgelegenen Regionen und den Nachbarstaaten reicht. Die engstirnigen, von Männern dominierten Gewerkschaften und die engen, nur an der Arbeit orientierten Interessen lassen Hoffnung auf einen radikalen Wandel an Orten wie ‚Wonderkop‘ nur von den Kämpfen der Frauen erwarten.“
Denn das Leben dort – dem Ort, in dem ein Großteil der für die benachbarte Platinmine Arbeitenden und deren Familien wohnt – ist gerade für sie besonders beschwerlich und erfordert für die von ihnen unbezahlt erledigten Tätigkeiten einen hohen Zeitaufwand. Die meisten Hütten dieser informellen Siedlung bestehen aus Holz und Wellblech. Gepflasterte Straßen existieren nicht. Latrinen sind von Hand angelegt, aber viele Bewohner_innen gehen aufs offene Feld oder in etwas entferntere Straßen, wenn sie ihre Notdurft verrichten müssen. Wasser an öffentlichen Zapfstellen gibt es nur bis mittags – wer über Gespartes verfügt, kann sich für den Preis von 80 US-Dollar einen Brunnen bohren lassen. Das Fehlen einer regulären Stromversorgung lässt sich allenfalls über riskanten Stromklau kompensieren. Für die Fahrt in die mindestens 20 Kilometer entfernten Krankenhäuser muss mensch private Transportunternehmen in Anspruch nehmen, die für einen Weg mehr als 50 US-Dollar verlangen. Auch für die weit entfernten Schulen, die zudem meist überfüllt sind, fallen hohe Transportkosten an, so dass das Bildungsangebot oft nicht wahrgenommen wird.
Das Ende der Apartheid wurde von der Industrie mit dem Versprechen weitest gehender neoliberaler Deregulierung erkauft. So hatten beispielsweise die Bergbauunternehmen in der Zeit vor 1994 zumindest die weißen Angestellten mit Familienunterkünften guter Qualität und entsprechend ausgestatteter Infrastruktur versorgen müssen. Nun reicht es, wie es auch das Bergbauunternehmen Lonmin in Marikana macht, Notunterkünfte für die Arbeitenden, in denen acht Personen in einem Zimmer leben und vierzig mit einer Waschgelegenheit auskommen müssen, zu erstellen. Mit der 2002 erlassenen Mining Charta und dem Basic Conditions of Employment Act können sich die Minen selbst von dieser Verpflichtung freikaufen, indem sie den Arbeiter_innen bei Verzicht auf den Platz in der Unterkunft jeweils 200 US-Dollar monatlich mehr auszahlen. Die weitaus meisten Beschäftigten nutzen dies zur Aufbesserung ihres kärglichen Lohns. So wohnen von den 28.000 Arbeiter_innen der Platinmine von Marikana nur ca. 3.000 in den von Lonmin erstellten Wohnblocks.
Lonmin, der Welt drittgrößter Platinproduzent, machte 2011 einen Gewinn von 226 Millionen US-Dollar. Während ein Arbeiter am Steinbohrer 2012 im Schnitt monatlich 1130 US-Dollar verdiente, wovon ihm je nach Abzügen gerade noch 325 bis 645 US-Dollar blieben, konnte sich der Geschäftsführer des Konzerns 129.192 US-Dollar pro Monat einstreichen.
Dass die Übernahme von Reproduktionsleistungen seitens der Industrie vor allem eine politische Frage ist, belegt Hargreaves mit einem Blick auf das viel ärmere Zimbabwe. Dort wurde nach Angaben der kirchlich orientierten Benchmark-Foundation dem Unternehmen Impala Platinum auferlegt, für die Minen Mimosa und Ngezi reguläre, genügend große Wohnungen mit ausreichender Infrastruktur zur Verfügung zu stellen sowie ein komplettes Schulsystem zu unterhalten. In Südafrika existieren keine gesetzlichen Regelungen zu Mindeststandards für Einrichtungen zur sozialen Reproduktion der Arbeitenden und ihrer Familienangehörigen, so dass Impala Platinum bei den auch hier betriebenen Minen weit davon entfernt ist, die in Zimbabwe konstatierte Qualität in der außerbetrieblichen Versorgung zu erreichen. So wird im Prinzip die 150 Jahre alte Bergbaugeschichte weiter geführt, in der die Minenunternehmen dank billiger männlicher Arbeitskraft und der unbezahlten Arbeit von Frauen – fast durchweg schwarzer Hautfarbe – „massive Gewinne akkumulieren.“
Da zudem die kommunalen Verwaltungen, per Verfassung eigentlich zur Sicherstellung der sozialen Reproduktion verpflichtet, aufgrund von Korruption und Geldmangel ihrer Aufgaben nicht nachkommen, leben gut ein Viertel der Haushalte in irregulären Siedlungen wie Wonderkop.
Nach Meinung der Autorin ließe sich das ändern: „Wenn auf die Stimmen der Frauen mit ihren Forderungen nach Wohnung und Sozialleistungen gehört würde, dann müssten die traditionellen Gewerkschaften wie die neuen demokratischen Arbeitervertretungen ihre Aufmerksamkeit auch auf die Krise der Reproduktion richten. Die Forderungen an Staat und Unternehmen, ihren Verpflichtungen nachzukommen, würden damit auch eine breitere und nachhaltigere Debatte um die Sozialpolitik eröffnen.“
Vielleicht bedeuten die Ereignisse von Marikana auch einen wichtigen Schritt in diese Richtung. Schließlich zogen eintausend Frauen – und zwar ausschließlich Frauen – in einem Demonstrationsmarsch zur lokalen Polizeistation, um zum einen die Verurteilung des brutalen Polizeieinsatzes zu fordern, aber auch, um auf die harten Lebensbedingungen in ihrer Siedlung hinzuweisen.
Hargreaves, Samantha: Das Massaker von Marikana: Unbezahlte Arbeit von Frauen, Unternehmensprofite und die Vernachlässigung durch den Staat. In: Peripherie Nr. 132, Zeitschrift für Politik und Ökonomie in der Dritten Welt. Münster, S.494-500