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Jugendbewegungen in der arabischen Welt

Das Buch beruht auf einer Zusammenarbeit der Mittelost-Insitute Leipzig und Marburg. Es enthält, anschließend an die Einleitung und zwei einführende Beiträge, Fallstudien zu Jugendbewegungen in Nordafrika und dem „Nahen Osten“. Diese schließen sich in mancher Hinsicht an die Hypothesen von Asef Bayat an (Leben als Politik). Von Bayat stammt auch einer der einleitenden Aufsätze. Die Fallstudien sind durchdrungen von persönlichen Eindrücken der Autor*innen, sie beruhen auf Forschungsaufenthalten in den betreffenden Regionen. Aufgelockert und ergänzt wird das Buch durch beeindruckende Bilder, welche den Text passgenau ergänzen. Zudem sind die Autor*innen erkennbar um Verständlichkeit bemüht, und das macht die Lektüre nicht nur für Fachgelehrte zu einer Bereicherung.

1.
Im Einleitungsbeitrag wird das Verschwinden der Jugendlichen aus den Medien beschrieben, die während der Arabellion nur einen kurzen Auftritt gehabt haben. Dennoch sind sie vor Ort präsent, auf den Straßen, im Widerstand des Alltags und in Subkulturen. Der Beitrag zeichnet die Ausbreitung der Arabellion nach, von Sidi Bouzid nach Algier, dann zurück nach Tunesien, nach Libyen und Jordanien, dann über die Peripherie von Oman und Jemen nach Ägypten …

Neben dem Anstieg der Öl- und Lebensmittelpreise waren Armut und Jugendarbeitslosigkeit allerorten der Hintergrund, vor dem sich die Rebellion der Jugendlichen ausbreitete, als Ruf nach Freiheit, Würde und Perspektiven. Während in den 90er Jahren eine Reihe von Publikationen die „Jugend“ nur als Problem sahen, als „Youth Bulge“ und lebende Zeitbomben, hat es auch vor der Arabellion schon eine Reihe von Studien gegeben, welche der „Jugend“ und ihre Artikulationen nicht nur als Problem des sozialtechnisichen Managements gesehen haben, sondern den Jugendlichen einen Anspruch auf Agency und Präsenz zugestanden haben. Dabei sind die arabischen Jugendlichen nicht nur besser ausgebildet und vernetzt als alle vorausgehenden Generationen, sondern aufgrund fehlender Perspektiven dauert die Zeit ihres Noch-Nicht-Erwachsenseins auch länger als früher, nicht selten weit über die 30 hinaus.

Die Thesen, mit denen die Autoren den Inhalt ihrer Arbeit zusammenfassen, sollen hier vollständig zitiert werden:

(1) Jugendliche werden zunehmend zu einem internationalen Akteur mit sich annähernden Lebensentwürfen. Es entstehen neue Allianzen, die einerseits auf gemeinsamen Kohorten-Erfahrungen wie der erlebten Möglichkeit, ein Regime zu stürzen, und andererseits auch auf Generationsbrüchen und der Ablösung von traditionellen Bindungen und Werten beruhen. Dies bedeutet keineswegs eine zunehmende Homogenisierung der Jugend, sondern vielmehr die Ausbildung unterschiedlicher .Jugendlandschaften“, die lokale Bindungen und Ländergrenzen überschreiten. Somit driften gleichzeitig die Alltagspraxen der unterschiedlichen Generationen weiter auseinander, während sich unterschiedliche Gruppen von Jugendlichen ausdifferenzieren – etwa in Subkulturen. die sich partiell aus ihrem lokalen Umfeld herauslösen können, weltweite Bezüge herstellen, neue mediale Interaktionen generieren und sich auch als Gruppe durch selektive Aneignungsprozesse neu formieren.

(2) Jugendliche sind Akteure des Widerstands: Von globalen Krisen wie dem Reaktorunfall in Fukushima und den Auswirkungen der Finanzkrise in Europa sind vor allem Jugendliche betroffen. Ihre Arbeits- und Zukunftschancen werden etwa in Spanien, Griechenland und Japan teilweise massiv eingeschränkt. Wie in der Occupy-Bewegung werden sie zu Gegnern der räuberischen Züge der Globalisierung und wachsender Ausgrenzung. Trotz Partikularitäten zeigt sich dabei eine historische Kontinuität. Seit den Unabhängigkeitsbewegungen und den Nationalismusdiskursen postkolonialer Staaten, den 1968er Bewegungen im Westen und den Anti-globalisierungsbewegungen bis hin zum Arabischen Frühling: Immer waren Jugendliche Adressaten der Hoffnung und auch Träger der Protestaktionen. Während allerdings früher große gesellschaftliche Projekte und Utopien im Mittelpunkt standen, zeigen sich nun zwei parallele Entwicklungen: Einerseits sind es individuelle, private Träume und hedonistische Lebensentwürfe, um die Jugendliche ringen. Andererseits scheint die Jugend auch kollektiven Idealen verpflichtet zu sein. Jugendliche formieren sich zu einer neuen gesellschaftlichen Kategorie; ihre politische Bedeutung wächst.

(3) Jugend und Urbanisierung: Jugendliche wachsen in Städten anders auf als in ländlichen Gebieten. Städte sind im kolonialen Gefüge als Brückenköpfe, in der postkolonialen Phase als Primatstädte und unter Globalisierungsdynamiken als Portale beschrieben worden. Städte waren und sind die Taktgeber von gesellschaftlichen Transformationen und Jugendliche sind damit in besonderer Weise verbunden. Bereits heute lebt mehr als die Hälfte der Menschheit im urbanen Raum. Doch gerade die Metropolen und Megacities des globalen Südens wie Kairo oder Istanbul zeichnen sich durch Problemballungen auf engstem Raum aus. Die räumliche Segregation in Arm und Reich wird durch Abschottung in abgeschlossene Wohngebiete (Gated Communities) manifest, die Ungleichheit und Ausgrenzung wird auch für Jugendliche immer sichtbarer und erlebbarer. Überwachungstechnologie, Privatisierte Sicherheitsapparate und Abschottungsarchitektur verzahnen sich und produzieren teritorial manifeste Exklusionsorte.
Gleichzeitig greifen Proteste in Hauptstädten die Legitimität der Regierung unmittelbar an. Protestorte wie der Midan Tahrir (Platz der Befreiung) in Kairo liegen nicht nur zentral, sondern sind auch symbolisch aufgeladen; sie waren wiederholt Orte der Konfrontation, die medial sichtbar gemacht wurden. Das Ringen darum, in Szene gesetzt zu werden, ist gleichermaßen so urban wie politisch.

(4) Jugendliche entwickeln neue, auch subversive Partizipations-, Mobilisierungs- und Protestformen: Es ist zu unterscheiden zwischen individueller Politischer Partizipation, kollektiven Protestaktionen und dem generellen Wunsch, Teil der Gesellschaft zu sein, zur Moderne dazu zu gehören. Entgegen der These, dass Jugendliche entpolitisiert seien, möchten sie, oft ohne gemeinsame politische Agenda, bestehende Ordnungen testen und in Frage stellen. Subversive Formen des Protests umfassen die Physische Anwesenheit im öffentlichen Raum, Streetart- und Graffitiaktionen und alternative ‘sportliche’ Bewegungen in der Stadt (Parkour) bis hin zu Gehorsamsverweigerungen und spontanen Protestaktionen. Oft sind es individuelle Aktionen, die Massenwirksamkeit entfalten, die den Staat symbolisch bloßstellen wie das harraga-Phänomen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie kaum eine hierarchische Struktur benötigen, mit niedrigen Schwellen arbeiten, spontan verlaufen können und zunehmend eine virtuelle Sichtbarkeit erfahren. Die vielfältigen und dynamischen Schnittstellen zwischen virtuellen Interaktionen, physischer Präsenz und gesellschaftlicher Mobilisierung fordern neue Forschungen über Jugendliche in der arabischen Welt. (S.28)

2.
In seinem Positionspapier Krise und Widerstand greift Jörg Gertel die Bayat-Thesen insofern auf, als er die Genealogie der Aufstände aus dem Alltagsleben der wachsenden Unterschichten und aus den mit der Globalisierung verbundenen Enteignungsprozessen beschreibt. Dabei geht es auch um die räumliche Verschiebung zwischen dem Ort der Proteste und den Ursachen der Verarmung, weit weg in den Zentren des globalen Kapitals.

Gertel hat zu den Nahrungsmittelkrisen und -revolten in den letzten Jahren bereits eine Reihe interessanter Publikationen vorgelegt, und die Nahrungsmittelaufstände der Jahre 2007/8 bilden den Auftakt seiner Arbeit, sehr wohl unter Bezug auf die Moral Economy bei Thompson und dann bei Scott. Vor allem aber mit Übertragung dieser Auffassungen in den städtischen Raum, unter Bezug auf Denoeux, Urban Unrest in the Middle East, 1993. Deneux hat in seinem Buch informelle Netzwerke in Ägypten, Iran und Libanon untersucht mit der Folgerung, dass die Urbanisierung soziale Gruppen nicht zerstöre, sondern informelle Netzwerke oft vitalisiere – oft als Patron-Klient-Beziehung, in denen sich die die Interessen der Armen in ambivalenten Formen artikulieren. Vielleicht wäre ein Hinweis auf Gutman, der die Wendung traditioneller Moral bei Migrantinnen in den USA als revolutionären Impetus beschrieben hat, an dieser Stelle angebracht gewesen. Gertel nimmt dann, nach einem kurzen Blick auf die ägyptischen Arbeiterbewegungen, auf Bayats Leben als Politik Bezug – die neue Begrifflichkeit des Non-Movement und des Quiet Encroachment seien dringend benötigt, um ein Verständnis für das zu entwickeln, was als Widerstand heute verstanden werden muss.

Die Kritik, die Gertel zu Bayats Buch äußert, ist allzu berechtigt: „Unklar bleibt allerdings, wie der Übergang von Alltagshandlungen zur politischen Mobilisierung erfolgt, und unscharf bleibt, welche Gruppen dabei aktiv werden. Sind es die Ärmsten der Armen … oder ist es doch der verarmte Mittelstand? Wer wiederum sind die ganz normalen Menschen? Zudem bleiben in dieser Betrachtung die externen Ursachen von Unsicherheit, Armut und Krisen weitgehend ausgeblendet.“ (S.45) Allerdings bleibt in dieser Kritik die eigentliche Kernfrage Bayats ausgeblendet: Geht es überhaupt noch um „politische Mobilisierung“ und was bedeutet „Politik“ aus der Sicht der Armutsbevölkerungen? Geht es nicht vielmehr darum, „die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen“?

Gertels genealogischer Überblick über die Brotpreisaufstände in ihrem Zusammenhang mit dem Washington Consensus, der neuen Weltordnung seit den 1990ern, den Zusammenhang mit Getreidehandel und -spekulation und mit der Entwicklung des Finanzkapitalismus der letzten Jahre ist vor allem deshalb interessant, weil ein systematischer Bezug zwischen den regionalen Aufstandsbewegungen einerseits und dem globalen Kapitalismus andererseits gesucht wird. Dabei eröffnen die digitalen Medien, in Wechselwirkung mit der Präsenz auf der Straße, ein weiteres Terrain der Auseinandersetzung.

Das Ausmaß absoluter und latenter Armut, so Gertels Resumee, hat in den arabischen Ländern zugenommen. Die Kosten für Grundnahrungsmittel verschlingen einen Großteil des Einkommens, besonders bei den städtischen Armen. Dabei ist „die neue Struktur des globalen Nahrungsmittelsystems durch fragmentierte Verantwortlichkeiten gekennzeichnet, entsprechend kollabiert, mangels eindeutiger Adressaten, die moralische Ökonomie – die Felder gemeinschaftsbezogener Regelungen versagen. Heute ist nicht nur die Verflechtung von Produktion und Konsum von weltweiter Ausdehnung, auch die Preisbildung findet oft weit entfernt vom Ort des Nahrungsmittelumschlags … statt. Während viele Protestaktionen die jeweilige Regieruung adressieren, bleiben die Handlungen und Interessen von Akteuren wie Banken oder Getreidekonzernen weitgehend unbekannt…“ (S.71)

Während Gertel einen Kollaps der Moralischen Ökonomie diagnostiziert, liest sich der Aufsatz von Bayat über die Neoliberale Stadt etwas anders. Wir kennen Bayat ja als Jemand, der gern Begriffe prägt, und so beschreibt er die neue Urbanität als einerseits durch Enclosures geprägt, die Abschottung des Reichtums, und andererseits durch ein Inside-Outing, eine zunehmend auf die Straßen und öffentliche Räume angewiesene Ökonomie der Armen, zunehmend verbreitet auch unter Angehörigen der deklassierten Mittelschichten.

Die nach Außen gekehrte Stadt, so Bayat, hat einen tiefgreifenden Einfluss auf die Lebenswelten, die Bewältigung der täglichen existenziellen Nöte und die Auffassungen.
„Nicht nur der informelle Lebensunterhalt stützt sich stark auf die Ökonomie im Freien, informelle Gemeinschaften, Slums und Sqattersiedlungen sind auch in erheblichem Maße auf öffentliche Räume im Freien angewiesen, die von den Bewohnern als Orte der Arbeit, Geselligkeit, Unterhaltung und Erholung genutzt werden.“ (S.83) Die Wohnungen sind zu klein, aber ein Leben als Wohnungsloser, wie es dies in Kalkutta gäbe, kommt im muslimischen Kontext nicht in Frage.

“Was sagen uns diese neuen räumlichen Gegebenheiten über die Machtbeziehungen in den heutigen Megastädten des Nahen Ostens?” Handelt es sich um „verlorene Städte“, wie es eine Reihe linker Autoren und insbesondere David Harvey meinen? Oder gibt es eine Radikalität der Armen, die sich in Ghaza oder in Sadre City angekündigt hat, und die von Mike Davis als „Urbane Kriege des 21. Jahrhunderts“ beschrieben wurde? Bayat sagt weder noch. Aber die neue Urbanität der nach Außen gekehrten Stadt stelle eben nicht nur einen Prozess der Ausgrenzung dar, sondern generiere auch neue Formen der Öffentlichkeit von unten und mit ihnen jene „Politik der Straße“, welche die Eliten in mancher Hinsicht zum Rückzug zwingen könnte.

Das stille Vordringen der informellen Bevölkerung, die Besetzung der öffentlichen Räume, zwinge die Eliten geradezu zum Rückzug in die Gated Communities und schaffe Räume nicht nur der informellen Ökonomie, sondern auch der Erfindung neuer Artikulationsformen,die Autopoiese eines informellen Widerstands.

3.
Wenn man zu Bayats Aufsatz die Wiederholung der Begrifflichkeit kritisch anmerken könnte – die ja den Lesern von Leben als Politik schon gut bekannt sein dürfte – so sind die folgenden Beiträge großenteils informative Illustrationen zu Bayats Hypothesen. Ein Abschnitt des Buchs ist Nordafrika gewidmet, ein weiterer dem sog. Nahen Osten, mit interessanten Beiträgen zu Tunesien und Algerien, Marokko und Kairo, teils tiefere Genealogien der Arabellion, teils Momentaufnahmen, zum Beispiel zur Straßenkunst in Kairo oder dem Parcour-Sport in Marokko, teils Zusammenfassungen von Interviews mit Jugendlichen, zum Beispiel Ramallah und Istambul.

Die internationale Migration wird in einem Beitrag über jugendliche Migrationsarbeiterinnen in Dubai gestreift – 20 Seiten, die m.E. zu den spannendsten des Buchs gehören. Ein Überblick über die Migrationsbewegungen rund ums Mittelmeer hätte indes dem Buch überaus gut getan – die Mobilität über Grenzen und das Meer hinweg ist nämlich das Pendent des Quiet Encroachement. Der Kosmopolitanismus der Jugendlichen, auf den im Buch gelegentlich Bezug genommen wird, speist sich nicht nur aus informeller Präsenz und der Nutzung neuer Medien, sondern zugleich aus Reiselust und Überwindung der begrenzten Möglichkeiten. Die Beschreibung des Parcour-Sports hätte mit einem Beitrag über Harraga wirkungsvoll ergänzt werden können (Interviews mit den Ankommenden in Lampedusa oder Athen sind ja noch leichter zu arrangieren als Interviews in Ramallah). Dass die Kriegszonen in Libyen, Syrien und Irak bei den Untersuchungen ausgespart wurden, ist erklärlich. Die Fragen nach dem Verhältnis der Jugendlichen zum bewaffneten Kampf taucht in dem Beitrag über Ramallah am Rande auf, spielt aber sonst in keinem der Beiträge eine Rolle. Eine Untersuchung über die tiefen Auswirkungen der Initfada auf den gesamten „Nahen Osten“ und Nordafrika, besonders aber die Rückwirkungen der aktuellen Bürgerkriege auf die Nöte, Lebensstile und Mentalitäten der Jugendlichen steht noch aus. Der Mitherausgeber des Buchs, Ouaissa, geht in seinem Beitrag über Algerien auf die „Gewalt und die Faszination der Emire“ auf zwei kurzen Seiten ein; in Hinsicht auf die unglaubliche Sogwirkung des IS und die Radikalisierung der Salafisten bleibt aber auch dies ein Feld, das trotz aller aktuell dringlichen Fragen brach liegen bleibt.

Alles in allem also ein Buch mit vielen interessanten Facetten, gewissermaßen ein Illustrationsband zu Bayat, mit Bezügen auf die Hungerpolitik des globalen Kapitalismus, die insbesondere Jörg Gertel zu verdanken sind, und mit spannenden Streiflichtern. Es bleibt zu hoffen, dass die eben erwähnten Fragen, die nach den Migrationsbewegungen und nach dem Verhältnis der Jugendbewegungen zu Bewaffnung und Gewalt, recht bald in ähnlich guten Büchern beschrieben werden.

Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.)
Jugendbewegungen
Städtischer Widerstand und Umbrüche in der Arabischen Welt
Bielefeld (Transcript) 2014, 400 S. 19.90 €