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Im Schnittfeld von Land und Stadt

Werkstattbericht zur Solidaritätsarbeit mit bäuerlichen Bewegungen in Mali (1)

Seit 2012 ist das transnationale Netzwerk Afrique-Europe-Interact damit zu Gange, Bündnisse mit Kleinbauern und -bäuer_innen in Mali zu schmieden, die von unterschiedlichen Formen von Landgrabbing betroffen sind. In einem Werkstattbericht soll daher aus unterschiedlichen Blickwinkeln eine erste Zwischenbilanz gezogen werden, auch um die dortigen Prozesse mit hiesigen Debatten zur transnationalen Organisierung bzw. internationalistischen Solidaritätsarbeit kurzzuschließen.

Die Szene Anfang März 2015 wirkt wie aus einem anderen Film – jedenfalls aus europäischer Perspektive: Ein hochbetagter, schon lange erblindeter Dorfchef hat zusammen mit zwei ebenfalls sehr alten Männern vor seiner türlosen Hütte Platz genommen. Anlass ist die Begrüßung einer 12-köpfigen Delegation des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact (AEI), darunter drei Aktivist_innen aus Europa (2). Doch die aktuelle Lage des 250 Kilometer nordöstlich der malischen Hauptstadt Bamako gelegenen Dorfes Sahou ist ungleich dramatischer, als es die in landesüblicher Gelassenheit durchgeführte Begrüßungszeremonie vermuten lässt. Denn seit 2010 haben Sahou und sein Nachbardorf Sanamadougou schrittweise einen Großteil ihrer Ackerflächen durch Landgrabbing verloren – eine existentielle Katastrophe, die durch den zynisch anmutenden Umstand unterstrichen wird, dass vor allem nachts in den schmalen, von niedrigen Lehmmauern gesäumten Gassen Sahous allenthalben das Brummen der Maschinen und Kühlanlagen des Agrobusiness-Unternehmens Moulins Modernes du Mali zu hören ist. Firmenchef Modibo Keita gilt als bestens mit der politischen Klasse in Bamako vernetzter Geschäftsmann, nur so dürfte es ihm gelungen sein, sich die Flächen der beiden Dörfer unter den Nagel zu reißen – und das, obwohl im Pachtvertrag ein ganz anderes Gebiet 30 Kilometer weiter nördlich ausgewiesen ist. Hierzu passt, dass vergangenes Jahr sogar der malische Präsident Ibrahim Boubacar Keita die Felder von Moulins Modernes du Mali besucht hat, zusammen mit seinem Kollegen aus Burkina Faso, dem inzwischen per Volksaufstand gestürzten Langzeitdiktator Blaise Campaoré. Und auch Deutschland mischt indirekt bei der Unterstützung des skrupellosen Unternehmers mit, dem bezeichnenderweise der Ruf eines vorbildhaften Modernisierers afrikanischer Landwirtschaft vorauseilt. Denn die bundeseigene Investitions- und Entwicklungsgesellschaft (DEG) ist mit 21,4 Prozent an der malischen Entwicklungsbank BNDA beteiligt, die wiederum Modibo Keita in jüngerer Zeit vier große Kredite gewährt hat.

Kurzum, Sahou ist zusammen mit Sanamadougou ein typisches Beispiel jenes Mechanismus, der bereits in kolonialer Zeit etabliert wurde: Selektive Integration in (welt-)marktbezogene Verwertungsprozesse bei gleichzeitigem Ausschluss von jedweder politischer und materieller Teilhabe. Konkreter: Die beiden Dörfer liegen im Office du Niger, einer Region, die 1920 von der französischen Kolonialmacht als eigenständige Verwaltungseinheit gegründet wurde. Unter Rückgriff auf Zwangsarbeit ließ Frankreich damals den gigantischen Markala-Staudamm errichten, wodurch der Niger aufgestaut und die Möglichkeit geschaffen wurde, mittels eines weit verzweigten Kanalsystems eine riesige Fläche in der eigentlich völlig trockenen Sahelzone zu bewässern. Während die Kolonialmacht ursprünglich den Anbau von Baumwolle für die französische Textilindustrie forciert hat, ist das Land im weiteren Verlauf vor allem Kleinbauern und bäuer_innen zugesprochen worden. Heute indessen ist das Office du Niger zum Gegenstand millionenschwerer Investitionen geworden – inklusive massiver Landvertreibungen. Denn die Tatsache, dass die infrastrukturellen Voraussetzungen zur Bewässerung gegeben sind, hat Landkäufe in der Region zu einem gewinnträchtigen Geschäftsfeld gemacht. Obwohl der malische Staat davon spricht, mit den Landinvestitionen die Ernährungssicherheit der malischen Bevölkerung abzusichern, sollen über 50 Prozent der bislang abgeschlossenen Verträge der Produktion von Biospritpflanzen oder Exportgetreide dienen, ganz zu schweigen davon, dass bereits Tausende Kleinbauern und -bäuer_innen ihr Land und somit ihre Ernährungsgrundlage verloren haben. 

Dass sich AEI in Sanamadougou und Sahou eingefunden hat, ist insofern keineswegs zufällig. Bereits 2012 hat das Netzwerk mit einer 30-köpfigen Delegation die Region besucht – und seitdem so manchen Fußabdruck hinterlassen: So ist auf Initiative von AEI im Office du Niger die neue bäuerliche Basisgewerkschaft COPON entstanden, die Coordination des Paysans au Office du Niger (die Koordination der Bauern im Office du Niger). Des Weiteren ist in Europa eine Solidaritätskampagne für Sanamadougou und Sahou initiiert worden, und auch konnte für mehrere hundert Familien Land erstritten werden, das diesen rechtswidrig nicht zugeteilt worden war. Hierauf in einem praxisorientierten Werkstattbericht detailliert einzugehen, lohnt aus zwei Gründen: Einerseits, weil so plastisch nachvollziehbar wird, wie gemeinsame, langfristig angelegte Kämpfe im Schnittfeld zwischen Stadt und Land sowie Süd und Nord aussehen können. Andererseits, weil die Auseinandersetzung mit bäuerlichen Bewegungen auch aus prinzipiellen Gründen bedeutsam ist: Weiterhin lebt über die Hälfte der Menschheit auf dem Land, auch wenn metropolitane Linke auf explodierende Verstädterungsquoten verweisen, meist aus einer nicht offen eingestandenen Identifikation mit dem, was Globalisierungskritiker_innen wie Ulrich Brand als „imperiale Lebensweise“ bezeichnen – also ein ressourcenintensiver, fest in der kapitalistischen Warenwelt verankerter Lebensstil, der vor allem unter Klimagesichtspunkten hochgradig problematisch ist. Hinzu kommt, dass es insbesondere die industrialisierte Landwirtschaft ist, die maßgeblich zum Klimawandel beiträgt. Mit anderen Worten: Landkämpfe sind Klimakämpfe, einschließlich der doppelten Transformationsfrage: Was bedeutet Entwicklung in einem bäuerlichen Umfeld, das aus hiesiger Perspektive von teils nur schwer vorstellbarer Armut betroffen ist? Und wie müssen in den reichen Zentren die gesellschaftlichen Verhältnisse so umgestaltet werden, dass es nicht zum ultimativen Klimagau kommt?

Als AEI vor drei Jahren erstmalig im Office du Niger auftauchte, ging es vor allem um ein vorläufiges Kennenlernen. Anknüpfungspunkt waren Kontakte, die Aktivist_innen aus Bamako im Rahmen des malischen Sozialforumprozesses zu unterschiedlichen Dörfern hergestellt hatten, darunter zu Kourouma und Koyan Koura. In praktischer Hinsicht waren beide Seiten mit ungewöhnlichen, sicherlich auch herausfordernden Entdeckungen konfrontiert. Für europäische Aktivist_innen war es vor allem das Geschlechterverhältnis, das für erhebliches Irritationspotential sorgte. Beispielsweise der Umstand, dass Männer im Plenum debattierten, während Frauen kochten oder räumlich abgetrennt in der letzten Reihe oder auf der gegenüber liegenden Seite des Dorfplatzes saßen. Eine Konstellation, die zunächst einmal verdammt nach patriarchaler Dominanz roch, aber doch nur einen Auschnitt der Komplexität des dortigen Geschlechterverhältnisses widergab, wie sich im weiteren Verlauf zeigen sollte. Im Gegenzug standen dem – ebenfalls auf beiden Seiten – eine Vielzahl positiver Erfahrungen gegenüber. So zeigten sich die Bauern und Bäuer_innen hochgradig erfreut darüber, dass die Delegation bei gleißender Sonne einen ausgiebigen Besuch der Felder vorgenommen hatte. Denn weder Politiker_innen noch NGO-Vertreter_innen würden so etwas gemeinhin tun, womit die aus 20 malischen und 10 europäischen Aktivist_innen zusammengesetzte Gruppe ungeahnterweise einen ersten Lackmustest bestanden hatte.

Im Zuge der zwischenzeitlichen Besetzung großer Teile des Nordens durch Dschihadisten und Tuareg-Rebellen war das Office du Niger seit April 2012 weitgehend abgeriegelt. Begegnungen mit den Bauern und Bäuer_innen mussten in der Folgezeit in Bamako stattfinden, das galt auch für die Gespräche zur Anschaffung einer größeren Getreidemühle für ein an AEI beteiligtes Frauenkollektiv aus Kourouma. Um so erfreulicher war es, dass bei einem abermaligen, ebenfalls malisch-europäisch zusammengesetzten Delegationsbesuch von AEI im Mai 2014 an die zwei Jahre zuvor entstandenen Kontakte mühelos angeknüpft werden konnte. Konkret war bereits im Vorfeld zwischen AEI-Aktivist_innen in Bamako, im Office du Niger und in Europa die Idee einer eintägigen Bauernversammlung samt Protestmarsch in der Provinzhauptstadt Niono intensiv diskutiert worden. Als es nunmehr um die Umsetzung ging, verfing die Idee rasch, konkret kristallisierte sich ein ca. 30-köpfiger Vorbereitungskreis mit bäuerlichen Vertreter_innen aus allen sieben Verwaltungszonen des Office du Niger heraus. Einziger Haken: Nachdem AEI in Bamako auf einer gut besuchten Pressekonferenz die Proteste mit bis zu 1.000 erwarteten Teilnehmer_innen angekündigte hatte, wurde die Aktion auf Geheiß des Innenministeriums 36 Stunden vorher unter fadenscheinigen Gründen verboten, was in der Öffentlichkeit genauso wie die eintägige Ersatzveranstaltung in Bamako mit immerhin 50 bäuerlichen Delegierten aus dem Office du Niger für erhebliches Aufsehen gesorgt hat. 

Mit dem Verbot war der Protestdynamik erst einmal die Spitze gebrochen. In erster Linie, weil im Anschluss die Regen- und somit Hauptarbeitszeit auf dem Land begonnen hatte – einschließlich Ramadan. Aber auch, weil sich soziale Prozesse in Mali grundsätzlich durch eine enorme Fragilität auszeichnen. Einfach deshalb, weil es unter den herrschenden Bedingungen von Armut und sozialer Dauerkrise wenig Stabilitätsanker gibt, zumal meist die materiellen Ressourcen fehlen, um kontinuierlich im Kontakt zu bleiben. Gleichwohl waren die Erfahrungen hinreichend nachhaltig, so dass es anlässlich eines dritten malisch-europäischen Delegationsbesuchs im März 2015 zum entscheidenden Durchbruch gekommen ist. Die bereits erwähnte Basisgewerkschaft COPON war kurz zuvor als Verein registriert worden, entsprechend haben sich in Kourouma am 8. März über 100 Delegierte aus dem gesamten Office du Niger zu einer konstituierenden Sitzung versammelt. Vorausgegangen waren mehrwöchige Mobilisierungsanstrengungen sowohl durch persönliche Besuche in zahlreichen Dörfern als auch durch sechs 1-stündige Radiosendungen im linken Radiosender Kayira – umgesetzt von AEI-Mitgliedern aus Kourouma.

Ganz anders die Abläufe mit Sanamadougou und Sahou: Nicht nur die Erfahrungen mit massiver staatlicher Gewalt, auch zahlreiche Enttäuschungen mit unterstützenden Gruppen, Journalist_innen und Politiker_innen haben anfangs zu einer großen Skepsis gegenüber AEI geführt – verkompliziert durch den Umstand, dass eine der zwischenzeitlich in der Unterstützung der Dörfer aktive Gruppe versucht hat, AEI im Vorfeld gezielt in Misskredit zu bringen und so für sich eine Art Alleinunterstützungsanspruch zu reklamieren. Entsprechend wurde die malisch-europäische AEI-Delegation im Mai 2014 für 36 Stunden des Dorfes verwiesen – einfach, weil unter den Dorfbewohner_innen kein Konsens über eine etwaige Kooperation mit AEI zu erzielen war. Durch intensive, rein innermalische Gespräche konnte diese Blockade indessen überwunden werden, so dass 2014 nicht nur zahlreiche Delegationsbesuche sowie eine Lebensmittelspende von 4 Tonnen Hirse erfolgt sind. Vielmehr gab es auch in Deutschland zahlreiche AEI-Solidaritätsaktionen, samt mehrerer offizieller Briefe an malische Regierungsbehörden, an das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie an diverse westliche Botschaften in Bamako (wobei sich in dieser Phase mehrere parlamentarische Anfragen des linken Bundesabgeordneten Niema Movassat als enorm hilfreich erwiesen haben). Eines von mehreren Ergebnissen war sodann eine vom BMZ ausgesprochene Einladung an AEI, an der 8 hochrangige Mitarbeiter_innen des BMZ, der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), der DEG und der deutschen Botschaft in Bamako teilgenommen haben. Bei diesem zweieinhalbstündigen Gespräch ging es um Sanamadougou und Sahou sowie ein von der deutschen Entwicklungszusammenarbeit gesponsertes KfW-Bewässerungsprojekt, bei dem nicht die dafür vorgesehenen kleinbäuerlichen Familien, sondern korrupte Funktionäre und Dorfchefs das Land erhalten haben. Wichtig war diese Zusammenkunft vor allem deshalb, weil AEI auf diese Weise neue Informationen erhalten hat. Unter anderem darüber, dass die afrikanische Entwicklungsbank (an der Deutschland mit 4,1 Prozent beteiligt ist) Modibo Keita im September 2014 nur unter zwei Bedingungen einen 16,8 Millionen-Euro-Kredit gewährt hat: Einerseits, dass keine gerichtlichen Verfahren mehr anhängig seien, andererseits, dass die betroffenen Familien in Sanamadougou und Sahou Entschädigungen erhalten hätten. Beides wurde zugesichert, beides ist jedoch falsch, wie sich beim jüngsten Delegationsbesuch gezeigt hat, was insbesondere mit Blick darauf bemerkenswert ist, dass die von den zwei Dörfern im Februar 2012 gegen Modibo Keita angestrengte Klage seitens des Gerichts seit über 2 Jahren schlicht verschleppt wird. Insofern soll diesbezüglich nunmehr durch weitere Aktionen sowohl in Mali als auch in Europa zusätzlicher Druck aufgebaut werden. Und noch etwas: Im Rahmen des jüngsten AEI-Delegationsbesuchs ist es auch zu intensiven Gesprächen mit den eben erwähnten kleinbäuerlichern Familien gekommen, die um ihr Land geprellt worden sind. Nachdem AEI-Aktivist_innen die Ergebnisse ihrer Rechercheren einer Vertreterin der deutschen Botschaft präsentiert hatten, und zwar im Beisein der für das KfW-Projekt verantwortlichen malischen Kontaktperson zum Office du Niger, ist gerade mal eine Woche später mit einer Neuverteilung von Land an die betroffenen Familien begonnen worden. Ob das Problem damit wirklich gelöst ist, sei dahingestellt, dennoch handelt es sich um einen äußerst vielversprechenden Anfang.

Spätestens vor diesem Hintergrund gilt es nun, einen perspektivischen Schwenk zu vollziehen: Zunächst, um anhand dreier Stichworte einige der zentralen Herausforderungen bzw. Schwierigkeiten in der Kooperation herauszuarbeiten, sodann, um zu den politischen Schlussfolgerungen zu gelangen:

Stichwort Alltagsdifferenzen: Nicht nur die Geschlechterverhältnisse, auch andere Dimensionen des Alltags lassen erhebliche Differenzen unter den beteiligten Akteuren erkennbar werden – etwa das vergleichsweise starke Amt des Dorfchefs oder religiöse bzw. spirituelle Praktiken (um es aus der bewegungspolitischen und agnostischen Sicht des in Europa lebenden Autors zu formulieren). Die Land-Stadt- bzw. Süd-Nord-Kooperation erfordert daher auf allen Seiten hohe Frustrationstoleranz, denn manche Dinge müssen erst einmal schlicht stehen bleiben. Gleichzeitig ist auch wechselseitige Neugier gefragt, und der Verzicht auf all zu schnelle Urteile. Denn manches ist anders, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Beispielsweise die Position von Frauen – ablesbar unter anderem daran, dass die malischen Aktivistinnen von AEI in den einzelnen Dörfern stets auch Frauenplena einberufen, ohne dass dies als problematisch empfunden würde. Gleichwohl gibt es zahlreiche Aspekte, die nicht nur von europäischen Aktivist_innen kritisch beäugt, sondern auch von malischen Frauen offensiv als patriarchales Verhalten kritisiert werden. Grundsätzlich gleicht der soziale Prozess also einer Art Vexierbild, das je nach Blickwinkel unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund treten und je nach dem ganz verschiedene Gefühle von Nähe und Distanz entstehen lässt!

Stichwort Geld: Der Bedarf an selbstbestimmter Vernetzung ist unter den Bauern und Bäuer_innen enorm, was auch auf die erhebliche Skepsis gegenüber bäuerlichen Mainstream-Gewerkschaften verweist. Gerade deshalb ist die Erkenntnis so deprimierend, dass es vor allem fehlende Finanzmittel sind, die Organisierungsprozesse regelmäßig verunmöglichen. Zugespitzter: Ob Transport, Handy-Kommunikation oder Radio-Sendezeit, ohne Geld seitens der europäischen AEI-Sektion könnten Mobilisierungstouren oder Delegiertentreffen allenfalls rudimentär umgesetzt werden. Das aber wirft AEI-intern ganz eigene Fragen auf: Wofür wird wie viel Geld ausgegeben, d.h. wie sieht die Verteilung aus, und vor allem, wer hält das Heft in der Hand?  Denn dort, wo Mittel im Spiel ist, stellen sich unter Bedingungen extremer Knappheit rasch äußerst schwierige Dynamiken ein, kleine Schummeleien sind an der Tagesordnung, oft ist es auch nur der Streit darüber, wie hoch die Verpflegungssätze bei den AEI-Delegationsreisen sind. Zur Abfederung hat sich daher bei AEI eine gewisse Routine gemeinsamer, d.h. afrikanisch-europäischer Budget-Verwaltung herausgebildet. Und doch ist Geld in Mali ein quasi alle frustrierender Dauerbrenner – nicht zuletzt ob der insbesondere für die malischen Aktivist_innen schwierigen, ja demütigenden Ausgangssituation, dass es häufig externe Gelder sind, die bereits ins Auge gefasste Aktivitäten überhaupt erst katalysierend in Gang bringen. 

Stichwort Sprache und Schriftlichkeit: Die allermeisten Bauern und Bäuerinnen im Office du Niger sprechen Bambara oder andere der in Mali gebräuchlichen Sprachen, allerdings kaum französisch, einfach, weil sie keine Schule besucht haben. Ähnliches gilt – wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen – für die in Europa lebenden Aktivist_innen, es sei denn, sie kommen aus Mali oder einem der Nachbarländer. Hieraus folgt, dass die transnationale Kooperation zwischen Süd und Nord ohne intensive Übersetzungsprozesse nicht zu haben ist, was allerdings ein ungleich kleineres Problem darstellt als der Umstand, dass sämtliche offiziellen Dokumente auf französisch verfasst sind. Denn Konsequenz ist, dass diese meist unverstanden bleiben. Übrigens auch deshalb, weil Schriftlichkeit für viele keine relevante Größe verkörpert –  ein Umstand, der von der Gegenseite knallhart ausgenutzt wird, auch für manipulierende Spiegelfechtereien wie etwa gegenüber der afrikanischen Entwicklungsbank. Mit anderen Worten: Auf all denjenigen mit Zugang zur Schriftlichkeit lastet die Verantwortung, sich für eine umfassende Weitervermittlung entsprechender Informationen einzusetzen, das gilt (paradoxerweise) auch für die europäischen Aktivist_innen.

Schließlich zur politischen Einordnung: Grundlegend ist, dass die Bauern und Bäuer_innen in erster Linie die Wiedererlangung des ihnen geraubten Landes bzw. Zugang zu Land überhaupt einfordern. Dies unterstreicht einmal mehr, dass der in Europa gerne kultivierte Diskurs, wonach halb (West-)Afrika auf gepackten Koffern sitze, an der Realität vorbeigeht. Migration ist eine Notfall- bzw. Überlebensstrategie, und wo sie halbwegs problemlos gelingt (was immer seltener der Fall ist), kann sie auch punktuell zu lokaler Entwicklung beitragen. Was demgegenüber tatsächlich gefragt ist, ist eine umfassende Landreform sowie weitere Unterstützungsleistungen zur Entwicklung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft wie niedrige Saatgut- und Düngerpreise, Vermarktungsmöglichkeiten etc. – also all das, was im Zuge jahrelanger IWF-Strukturanpassungsprogramme abgebaut wurde. Bereits jetzt stehen vielen Familien gerade mal 0,5 bis 1,5 Hektar zur Verfügung, nötig wären aber mindestens 3 Hektar, auch um Brachezeiten zu ermöglichen. Wenn man zudem berücksichtigt, dass sich die malische Bevölkerung bis 2050 verdoppeln dürfte und jährlich 150.000 Hektar Boden allein in Mali erodieren, wird deutlich, inwiefern im Office du Niger buchstäblich Klassenkampf herrscht. So wurde der AEI-Aktivist Bakari Traoré nach einem seiner jüngsten Beiträge in Radio Kayira von Familienmitgliedern eines Funktionärs körperlich angegriffen, außerdem hieß es im offiziellen Radio des Office du Niger, dass er ein Faulpelz und Lügner sei. Denn die AEI-Delegation würde gar nicht in Kourouma Station machen, vielmehr habe sie nach ihrem Besuch in den weiter südlich gelegenen Dörfern Sanamdougou und Sahou das Office du Niger schon wieder verlassen. Es war insofern äußerst wichtig, dass einige Tage später bei Radio Keyira eine Sendung von der COPON-Gründungsversammlung in Kourouma mit O-Tönen unter anderem der europäischen Aktivist_innen ausgestrahlt wurde – 1:0 für AEI im Kräftemessen via Äther! 

Womit ein weiterer Punkt berührt wäre: Auch wenn die Bauern und Bäuer_innen ihr Recht auf eine selbstbestimmte bäuerliche Existenz verteidigen, sollte dies nicht über den Skandal äußerst schwieriger Lebensbedingungen hinwegtäuschen. Nur wer sich das völlig Fehlen jedweder Infrastuktur eindringlich vor Augen führt – gepaart mit extremer Armut, unglaublicher Hitze und Unmengen (Sahel-)Staub, wird begreifen, welch bewunderungswürdige Leistung es darstellt, dass es die Menschen in Mali immer wieder verstehen, im Alltag den sozialen Zusammenhalt aufrechtzuerhalten, paradigmatisch darin zum Ausdruck kommend, dass ständig Hände geschüttelt werden, auch innerhalb der eigenen Gruppe, bisweilen mit den gleichen Menschen mehrmals pro Stunde. Just hier gilt es anzusetzen. Denn selbstredend ist in Ländern wie Mali Entwicklung zwingend erforderlich, allerdings unter selbstgestalteten Rahmenbedingungen. Ohne echte Demokratie, d.h. politische Teilhabe von unten, kommt externe Unterstützung nicht bei der breiten Masse der Bevölkerung an. Zugleich müssen in Europa Fragen von (nicht-kapitalistischen) Postwachstumsökonomien dringlicher denn je diskutiert werden. Nicht nur aus Klimagründen, sondern auch um jene Prozesse auszubremsen, die immer wieder dazu führen, dass Afrika selektiv in die Mühlen profitorientierter Verwertungsinteressen der reichen Industrie- und Schwellenländer gerät.

Zu guter letzt: Viele der hier skizzierten Prozesse gäbe es ohne das transnationale Netzwerk AEI nicht – weder die Basisgewerkschaft COPON noch das neu verteilte Land oder die frisch gewonnenen Widerstandsperspektiven für Sanamadougou und Sahou. Und doch heißt das nicht, dass hier so etwas wie ein homogener Akteur entstanden wäre. Denn auch wenn man begreifen kann, wie die jeweils anderen ‚ticken‘, so bleibt aufgrund der unterschiedlichen ökonomischen, sozialen und (nicht-)religiösen bzw. (nicht-)spirituellen Alltagsrealitäten eine erhebliche Kluft unter den diversen Beteiligten bestehen. Zugespitzter: Weniger Gleichheiten oder Ähnlichkeiten sind Grundlage der hier beschriebenen Kooperationen (so wie das beispielsweise bei Blockupy der Fall ist), sondern Respekt und Heterogenität. Das ist mancher Hinsicht weniger romantisch und identitätsstiftend, aber es funktioniert – und genau das ist die wohl wichtigste Botschaft dieses Werkstattberichts.

(1) Der Text ist erstmalig im Mai 2014 in der Monatszeitung analyse & kritik unter folgender Überschrift erschienen: „Das Recht auf Missverständnisse. Solidaritätsarbeit mit bäuerlichen Bewegungen in Mali erfordert Neugier und Respekt für Unterschiede.“

(2) Weitere Infos: www.afrique-europe-interact.net

Olaf Bernau ist mit NoLager Bremen aktiv bei Afrique-Europe-Interact