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Am Point of No Return

Kommentar zur aktuellen Migrationsbewegung

Neue Achsen der Migration ziehen sich vom Nahen Osten und Nordafrika nach Mitteleuropa: Von Alexandria über Sizilien nach Mailand und weiter über die Alpen, und von Homs und Aleppo über Istanbul und Athen bis nach Salzburg und München. Die Migrationsbewegungen definieren das Mittelmeer neu, als Raum neuer sozialer Zusammenhänge, deren Ausläufer bis nach Deutschland reichen. Die Demokratie wird neu erfunden, und sie ist ein Produkt der Arabellion. Die Arabellion, die schon totgesagt war, eingekreist durch Bombardements und Despoten, erfindet sich neu in den aktuellen Migrationen.

Die Türkei hat als Durchgangsland gegenüber Libyen in den letzten Wochen an Bedeutung enorm gewonnen. Noch vor wenigen Monaten war die Türkei für bis zu 2 Millionen Migrantinnen ein vergleichsweise sicherer Ort. Zwar genießen Menschen aus dem Arabischen Raum in der Türkei kein Asylrecht, aber sie wurden als „Gäste“ behandelt, die Reicheren durften Häuser kaufen, die Ärmeren unterschichteten den Arbeitsmarkt, zumindest in den Grenzprovinzen, und trugen durch Verbilligung der informellen Arbeit zum Wirtschaftsaufschwung bei. Zugleich bemühte sich der türkische Staat um robuste Grenzkontrollen. Allein im ersten Halbjahr gab es mehr als 50 Tausend Festnahmen an den Grenzen.

Inzwischen überstürzen sich die Verhältnisse. Wesentliche Ursachen war sicherlich, dass Syriza in Griechenland die Migrantinnen nicht mehr abschreckte. Zudem wird der Status der Syrerinnen in Jordanien und im Libanon, wie in Syrien selbst, zunehmend prekär. Ihre Pässe und Aufenthaltstitel laufen ab. Verschärfend hinzu kommt, dass die Welternährungsorganisation die Nahrungsmittelhilfen in der Türkei, in Jordanien und im Libanon nahezu vollständig eingestellt hat. Nicht nur aus der Türkei wollen die Migrantinnen ausreisen, sondern aus allen arabischen Nachbarländern. Die meisten kommen inzwischen direkt aus Syrien. Der Strom ist kaum mehr zu steuern. Die Frustration der schon länger in der Türkei ansässigen Migrantinnen überkreuzt sich mit der Kurdenfrage und einer zunehmenden Immigration aus Afghanistan, teils nach einer Zwischenstation im Iran, zunehmend aber auch direkt aufgrund des Wiederauflebens der Kämpfe im afghanischen Westen.

In der Türkei ist das Amalgam aus kurdischen Rebellen, neuen städtischen Bewegungen und Migrantinnen aus Afghanistan und dem dem Syrischen Kessel zunehmend unkontrollierbar. Erdogan will als Zampano des sunnitischen Modernismus in die Geschichte eingehen, aber Wahlen stehen an, und seine Klientel ist gegenüber Arabern kaum minder rassistisch eingestellt als Merkels Ur-Gefolgschaft. Die formierten politischen Kräfte, Kurden oder linke Pinguine, haben es in der Türkei schwer, und die Migrationen wirbeln alles durcheinander.

Erdogans Plan, die syrischen Migrantinnen in einer grenznahen Flugverbotszone zurück zu stauen, fand in der NATO keine Unterstützung. Seine Taktik, den IS als Trumpf gegen die Kurden und gegen die syrische Arabellion auszuspielen, war innerhalb des Bündnisses von vornherein unhaltbar. Der Westen will keinen Fundamentalismus, und er kennt bislang nur eine Form der Nahostpolitik: Waffenlieferungen und Bombardierungen. Mit einer solchen Politik drängt man die Türkei, vielleicht ohne es zu wollen, an den Abgrund. Was Wunder, dass Erdogan, um NATO und EU ein Signal zu geben, die Migrantinnen nicht mehr hinderte, oder vielleicht nicht mehr hindern konnte, die Ägäis zu überqueren.

Wusste Erdogan, was er tat, als er die Schleusen ein wenig öffnete? Wusste Angela Merkel, was sie tat, als sie die Büchse der Pandora ein wenig öffnete? Sie weiß es jetzt, und sie ist in ihrer Not zu gefährlichen Allianzen bereit. Putin, Merkel, Erdogan und Assad, das passt nicht. In Zeiten, in denen das Politische Denken zwischen Sozialtechnologie und Bombardierungen changiert, wird die Kraft sozialer Bewegungen gern unterschätzt, und dazu gehört die Dynamik, mit der sich Migrationsbewegungen entwickeln können. Die IOM rechnet auch für den Winter mit einer Zunahme der Mittelmeerpassagen, und diese, wie auch die Passagen über die Ägäis, die sich zur wichtigeren Achse der Migrationen entwickelt haben, werden nur um einen sehr hohen Preis sich schließen lassen: um den Preis einer exzessiven Militarisierung des Mittelmeerraums und der Errichtung Deutscher Lager in der Peripherie. Die jüngsten Beschlüsse aus Brüssel zielen auf das Containment der Migrationen. Die Bombardierung soll durch Lunchpakete ergänzt werden. Die Türkei bekommt eine Milliarde. Griechenland muss sich fügen.

Aber ein Zurück zum Status quo ante wird es nicht mehr geben. Eine Millionen Migrantinnen reichen schon aus, um das Gesicht Kerneuropas zu verändern. Von einer Million auf zwei wird es nur wenige Monate brauchen. Europa steht am Scheideweg: Entweder Militär, Repression und Lager oder eine soziale Transformation mit Open End, die Akzeptanz neuer Basisdemokratischer Bewegungen, in denen die Migrantinnen der Arabellion, die deutschen Helferinnen und die Bajuvaren eine gemeinsame Sprache zu sprechen lernen.

Die Gefahren durch neue Nazis lasse ich hier unerwähnt, wie auch die fehlende Reaktion der Linken, die angesichts der spontanen Welle der Unterstützung in der Bevölkerung erstarrt zu sein scheint. Natürlich sind viele Linke aktiver und wesentlicher Teil der Willkommenskultur, aber es gibt keinen politischen Ort, von dem aus (abgesehen von AntiRa) Positionen formuliert werden, die dem aktuellen Geschehen gerecht werden. Vielleicht gibt es gute Gründe, jetzt nicht aufzutrumpfen. Sozialer Wohnungsbau für alle, Mindestlohn und soziale Mindeststandards für alle, das wären die Themen, um der Inszenierung von Verteilungskämpfen vom rechten Rand her zuvor zu kommen und dem großen backlash in Winter, nach einem Sommer der Migrationen.

FFM, Wochenkommentar vom 27.09.2015

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