Doppelrezension von „Mali oder das Ringen um Würde“ von Charlotte Wiedemann und „Am Fuße der Festung Europa“ von Johannes Bühler
Charlotte Wiedemann: Mali oder das Ringen um Würde
Charlotte Wiedeman beschreibt Mali jenseits der üblichen Krisenberichterstattung und nimmt die Leser_innen mit auf ihre Streifzüge durch das Land und lässt sie teilhaben an zahlreichen Begegnungen mit faszinierenden Menschen.
Die Autorin hat mehrere Jahre in Mali gelebt und war dort verheiratet mit Tiècoura Traoré, einen Eisenbahningenieur und Aktivisten gegen die Privatisierung der Eisenbahn, den sie auch ausführlich zu Wort kommen lässt.
Mali, so Wiedemann, einst Zentrum islamischer Kultur und Wissenschaften, leidet heute an wirtschaftlicher Abhängigkeit, einer korrupten Elite und am islamischen Fundamentalismus. Den zwischen diesen Gegensätzen um Würde und Gerechtigkeit kämpfenden Menschen will die Autorin eine Stimme geben.
Dieses Ringen um Würde bedeutet für sie zweierlei: einerseits, dass Arme im eigenen Land vollwertige Bürger werden und dass sie sich andererseits die Werkzeuge aneignen, um sich aus jenen globalen Bedingungen zu befreien, die ihre Armut zementieren (S. 10). Dabei stellen sich (in Afrika wie in Europa) Grundfragen nach der Bewahrung des Gemeineigentums, der gerechten Verteilung des Wohlstandes und der Abwendung der Orientierung an ökonomischen Wachstumsraten.
In zwölf Kapiteln versucht sie den Leser_innen das Land aus der Sicht seiner Bewohner_innen näher zu bringen. Dazu hat sie unzählige Interviews mit Gesprächspartner_innen geführt, die sie zum Teil sehr ausführlich zu Wort kommen lässt.
Im ersten Kapitel geht sie ausführlich auf die Geschichte ein, beschreibt das Ringen der „Araber“ und „Franzosen“ um Einfluss, und stellt dem das reiche, egalitäre kulturelle Erbe des Landes gegenüber. Ausführlich geht sie auf die „Charta von Kurukan Fuga“ (auch Charta von Mandé) von 1236 ein, die weitreichende Freiheitsrechte festschreibt. Sie verschweigt auch nicht den Geburtsfehler des „unabhängigen“ Malis 1960: damals war von der antikolonialen Bewegung ein Nationalstaat gar nicht vorgesehen, sie dachte panafrikanisch, wollte Afrika nicht zerstückelt sehen (vgl. S. 45).
Im folgenden beschreibt sie, wie „eine Gesellschaft, der es nach unserem Verständnis an allem fehlt“ (S. 52), ihren prekären Alltag durch ein dicht geflochtenes Netz von Beziehungen organisiert, die letztlich nur über persönliches Vertrauen funktionieren. Das führe z.B. dazu, dass die Hauptstadt Bamako, die zigtausende Flüchtlinge beherberge, weder Lager noch Slums und kaum Obdachlose kenne (vgl. S. 58).
Doch natürlich ist nicht alles toll in Mali: die Politiker sind nach wie vor die, die sich an den Fleischtöpfen heranmachen, und der Austausch des alten Personals in den Regierungsapparaten nach dem Ende der Diktatur 1990 hat wohl auch nicht reibungslos geklappt. Korruption ist an der Tagesordnung und der Reichtum des Weltbank-Musterschülers fließt nach China, Europa oder Amerika ab. So sehnen sich die Malier_innen wohl wie die Mehrzahl der Afrikaner_innen eher nach Schutz vor Willkür, nach Gerechtigkeit, nach persönlichen und gesellschaftlichen Freiheiten als nach einer Mehrparteiendemokratie oder Entwicklungshilfe, die sich vor allem an eigenen materiellen Interesse orientiert.
Wiedemann ist viel im Land umher gereist. In ihrem Buch berichtet sie von ihren Begegnungen mit einfachen Menschen, Bäuer_innen und Hirt_innen, fromme und weniger Fromme. Sie gibt deren Hoffnungen und Wünsche wieder und streut zahlreiche Informationen aus der Geschichte Malis in die Erzählungen.
Sie berichtet über das Ringen um ein angemessenes Verständnis des Islams, dass durch die Ankunft Saudi-gesponserter Wahabiten eine neue Schärfe bekommen hat.
Sie beschreibt anhand der Beispiele Baumwolle, Gold und Uran die sozialen und ökologischen Verwüstungen, die die kapitalistische Weltordnung in dem Land anrichtet. „Der wahre Terror ist die Armut“ zitiert sie die oppositionelle Politikerin Aminata Traoré (S. 222).
Sie belegt die Bedeutung der Migration für das Land. Fast jeder über fünfzig war hier mal Migrant, erzählen ihr Bewohner des Dorfes Kabaté (S. 225). Die Rücküberweisungen der Migrant_innen ist – wie überall in Afrika – höher als die offizielle Entwicklungshilfe.
Im letzten Kapitel bereist sie den Norden, das heißt nicht eigentlich den „für mich unerreichbaren Norden“ (S. 263), sondern Gao, das südliche Tor zum Norden. Dort lässt sie viele Menschen zu Wort kommen, die „einen dumpfen Groll gegen alle weißen Tuareg hegen“ (S. 275). „Weiße Tuareg“ kommen bei ihr nicht zu Wort.
Zum Abschluss bezieht Wiedemann eindeutig Stellung gegen die Verknüpfung ziviler Hilfsprogramme mit dem Einsatz von Streitkräften und schließt mit der Hoffnung, dass das Land künftig von seinen Bürgern kontrolliert wird: „Sich den Maßstäben der westlichen Welt nicht mehr unterzuordnen wird ein notwendiger Schritt zur Selbstheilung sein“.
Charlotte Wiedemann hat einen sehr einfühlsamen Beitrag zu einer aktuellen „Geschichte von unten“ und ein flammendes Plädoyer für die Einheit des Landes geschrieben. Man merkt dem Buch an, wie stark sich die Autorin mit den Menschen und dem Land identifiziert, das ihr für mehrere Jahre Heimat geworden war. Doch diese Stärke ist gleichzeitig auch ihre Schwäche.
So lässt den Rezensenten schon der Titel “Mali oder das Ringen um Würde“ etwas ratlos zurück: Wie kann ein Land um Würde Ringen? Menschen haben Würde, aber keine Nationalstaaten. Daraus ergibt sich für mich die Frage, ob nicht der erste Maßstab der westlichen Welt, der auf dem Weg zur Selbstheilung aufzugeben wäre, das Konzept des Nationalstaates an sich sein könnte? Wie es schon der antikolonialen Bewegung vorschwebte!
Gravierender ist aber, dass sie die Leute aus dem Norden, die „weißen Tuareg“ wie sie sie schreibt, konsequent nicht zu Wort kommen lässt. So macht sie das, was sie jenen vorwirft: sie separiert sie vom Rest des Landes, grenzt sie aus und spaltet das Land.
Um sich der sozialen Realität im Süden Malis zu nähern hat Charlotte Wiedemann ein hervorragendes Buch geschrieben. Um den Konflikt im Norden auch nur annähernd zu verstehen taugt es allerdings nicht.
Johannes Bühler: Am Fuße der Festung
Fragen des Nationalstaates interessieren Johannes Bühler nicht die Bohne. Der Schweizer machte sich auf nach Marokko, um am Fuße der Festung Europa auf Menschen zu treffen, denen Europa die Einreise verwehrt.
Fünfzehn unterschiedliche Personen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Nationalität, Männer wie Frauen schildern die Geschichte ihrer Flucht, die sie in den marokkanischen Norden brachte. Sie fliehen vor Armut, Repression oder Krieg. Ihr Ziel ist die EU. Zwischen den Berichten sind kurze Einschübe von Bühlers Reiseerlebnissen und Hintergrundinformationen eingestreut.
Bühler berichtet von dem Leben der Migrierenden unter prekären und meist illegalen Bedingungen in Marokko, von Gefängnisaufenthalten, von ihren gescheiterten Versuchen, in die EU zu kommen. Als Folge der EU-Maßnahmen zur Migrationsabwehr verstärkt sich der Rassismus gegen alle Schwarzen dort. „Wenn sie nicht von Europa bezahlt würden um uns abzuhalten, würden sie uns selber dort rüberbringen! Es ist alle eine Frage des Geldes“ (N’diaye aus dem Senegal; S. 125)
Repressive, nach Nationalität organisierten Netzwerken, die von der marokkanischen Polizei geduldet werden, machen den Neuankömmlingen das Leben zur Hölle.
Die Zeug_innen erzählen von der Reise durch die Sahara, unter schlimmsten Bedingungen. Vor allem die Frauen sind stets der Gefahr der Vergewaltigung ausgesetzt. Kleine und große „Schlepper“ betrügen die Reisenden oder rauben sie aus.
Die Situation ist verrückt: „In einem ersten Schritt kommt ihr nach Afrika, ihr nehmt unsere Ressourcen, ihr entführt unsere Großväter, in einem zweiten Schritt wollt ihr nicht, dass wir in euer Land kommen, aber in einem dritten Schritt könnt ihr in unserem Land sein, wann immer ihr wollt. Verstehst Du? Das schien mir verrückt.“ (Lamin aus Gambia; S. 214)
Bühler berichtet von den Träumen und Wünschen, und der Hoffnung, eines Tages doch noch in Europa leben zu können. Und wie über-lebenswichtig das Lachen für die Migrierenden ist. „So sehr, dass ich mich entscheiden werde, die Erzählenden in diesem Buch lachend abzubilden. Und ihr Lachen auf den Umschlag zu setzen“ (S. 131).
Dass Buch lässt keinen Zweifel daran, dass die EU für diese Verwerfungen verantwortlich ist: „Ein Ungleichgewicht wird solage nach einem Ausweg suchen, wie es besteht. Je höher die Mauern sind, die den Ausgleich verhindern, desto brutaler wird er. Die Reisen werden noch gefährlicher, Der Migrationsdruck steigt weiter an. Und die Kräftigsten sind immer entschlossen, die Festung Europa zu erobern“ (S. 268).
Bühler hat eine flammende Anklageschrift gegen die Mordmaschine, die sich Europäische Union nennt, und deren Migrationspolitik geschrieben. Leider hat er sich zu sehr auf die negativen Aspekte der Repression und Demütigungen versteift – für die kleinen Solidaritäten und Widerspenstigkeiten hat er kaum Antennen. Deswegen wird das Lesen über weite Strecken zu einer recht deprimierenden Übung. Aber die Situation ist eben auch schlimm!