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Ben Rawlence: Stadt der Verlorenen

Leben im größten Flüchtlingslager der Welt

Viel ist über den Krieg in Somalia geschrieben worden, doch ich habe von niemanden gelesen, der die relevanten Facetten des Krieges so gut zusammen getragen hat, wie der amerikanische HRW-Aktivist Ben Rawlence in seinem fulminanten Buch. „Stadt der Verlorenen“. Dabei „spielt“ die Handlung des Buches nicht mal in Somalia, seine Stadt der Verlorenen liegt rund 100 km südlich der Grenze, in kenianischem Niemandsland: Dadaab – dem größten Flüchtlingslager der Welt und mit 400.000 – 600.000 Menschen die drittgrößte Stadt Kenias1.

Rawlences Geheimnis liegt in der Methode: Er begleitet die Menschen, die vor dem Krieg in Somalia in das größte Flüchtlingslager der Welt“ geflohen sind, auf „ihren Wegen in die Tiefe der Stadt“. Er gibt ihnen ein Gesicht, eine Stimme.

Er erzählt von ihren täglichen Kämpfen, ihrer Arbeit, ihren Beziehungen, ihrer Herkunft, ihren Träumen, ihren Strategien, ihren Erfolgen und nicht selten auch von ihrem Scheitern. Er erzählt von einer „Welt mit eigenen Regeln, eigenen Grenzen, eigenen Geschichten. Er erzählt von einer vom UNHCR und den Hilfsorganisationen verwalteten Gesellschaft2, deren Grundpfeiler die Lebensmittelhilfe und ein internationales Rechtevokabular waren. Und zugleich war es ein glühend heißer Slum“3. Aus der unerträglichen Situation im Lager eine erträgliche häusliche Situation zu gestalten, war eine Aufgabe, die die Geduld der Paare auf eine harte Probe stellte und an der viele Ehen scheiterten. Die Frustrationen entluden sich oft in häuslicher Gewalt.

Rawlence erzählt von den Hoffnungen, dem Lager zu entkommen, nach Europa, Nordamerika oder Australien. Da für die Bewohner_innen des Lagers eine Integration in Kenia nicht vorgesehen ist, und die Rückkehr wenig attraktiv scheint, warten alle auf solch eine Neuansiedlung. Die Wenigsten erfolgreich: weniger als 2.000 Personen im Jahr werden „resettled“, wie es im Behördenjargon heißt. Es nach Europa zu schaffen ist ein Erfolg, im Lager zu bleiben gilt als Versagen.

Rawlence erzählt die Geschichte von Maryam und ihrem Mann Guled, einem fußballbegeisterten Jungen, der als Waise in einem Land ohne Regierung aufwuchs, in einer Geisterstadt voller Ruinen (Mogadischu), in einem Krieg, der durch die äthiopische Invasion 2007 in eine neue Runde ging, in einem Land, wo sich eine ganze Generation junger Leute den Milizen anschließt, um nicht zu verhungern. Gleichzeitig gab es ein Übermaß an Bewaffneten mit internationaler Besoldung. Doch Guled hatte Glück, er ergatterte den Job eines Kleinbusfahrers, heiratete im Flüchtlingslager (noch in Somalia) heimlich seine sechzehnjährige Freundin Maryam, ging weiter zur Schule.

Sein Glück verließ ihn, als Al-Shabaab in der Schule auftauchte und ihn mit einem weiteren Jungen zwangsrekrutierte. Er desertierte und floh über die Grenze nach Dadaab. „Um in die kenianischen Lagern zu gelangen, nimmt man – wenn man genug Geld hat – den Bus. Hat man kein Geld, läuft man. Die Lager liegen rund hundert Kilometer von der Grenze entfernt, und der Weg durch das karge Buschland ist gefährlich Die kenianische Polizei nennt papierlose Somalier im Scherz „Geldautomaten“, Vergewaltigungen sind an der Tagesordnung … Die Polizisten werden nach der Anzahl der verhafteten Flüchtlinge beurteilt, also füllen sie die heißen, stinkenden Zellen der Grenzstädte mit Asylsuchenden.“4

Trotz oder gerade wegen des Kriegs hatte es in Somalia ein Gemeinschaftsgefühl gegeben, die Menschen teilten das Wenige was sie hatten. Im Lager erlebte Guled Feindseligkeit. „Die Menschen hier hatten selbst nur das Nötigste, und das kam vom UNHCR, nicht von anderen“5.

Zehn Tage nach seiner Ankunft konnte Guled endlich seine Frau in Mogadischu anrufen, die sich sehr um ihn sorgte. „Von seinen Gefühlen überwältigt erzählte Guled die vielen Vorteile des Lagers auf, um sie zu überreden nachzukommen.“ Die Nachteile verschwieg er. Er fand einen Schlafplatz und einen Job auf einem kleinen Markt in einer „self-settled area“ namens Hawa Jube.

Plötzlich stand Maryam mit ihrer Mutter unangekündigt vor ihm. Sie war schwanger. „Die Armut und bittere Not in Hawa Jube, den Ort, den Guled in so rosige Farben beschrieben hatte, schockierte sie“6. Inmitten all der halbverhungerten Kindern hatte Maryam eine lange und komplizierte Kaiserschnittgeburt.

Sie führten endlose Debatten darüber, nach Somalia zurückzukehren. „Die Rückkehrgedanken der Flüchtlinge waren vollkommen losgelöst von den realen Fakten des Kriegs; ihr Antrieb war eher emotionaler Natur und der gefährlichen Situation im Lager geschuldet“7.

Guled hatte sich mit dem Leben im Lager abgefunden: „Gut, es gab kein Geld für Extrawürste oder besseres Essen, aber man wohnte mietfrei, bekam Lebensmittelzuteilungen und hatte jede Menge Zeit für seine Hobbys“.

Doch Maryam sehnte sich nach Somalia zurück. Ihre Mutter, die angesichts der Gewalt das Lager verlassenen hatte, heizte diese Sehnsucht mit Berichten über frischen Fisch, Obst und den Wiederaufbau in Mogadischu an. Schließlich brach Maryam alleine mit ihrem Kind auf, kehrte aber bald ins Lager zurück, weil sie medizinische Hilfe brauchte.

Rawlence erzählt die Geschichte von Nisho, der noch nie im Leben woanders als in Dadaab gewesen war. Nisho arbeitet sei halbes Leben für einen Hungerlohn auf dem Bosnia Markt.

Das Krankenhaus hatte seiner psychisch kranken Mutter nicht helfen können, also hatten sie es mit dem Hexendoktor versucht. Die Muslime missbilligten die Hexerei, „aber der Reichtum des Hexendoktors bewies, dass die Viehhirten unbeirrt auf die alten heidnischen Bräuche vertrauten“8.

Einmal ließ er sich darauf ein, mit einem Lastwagen nach Somalia zu fahren, weil ein Beifahrer mehr verdiente, als ein Lastenträger. Für fünf anstrengende Tage nach Mogadischu und fünf gefährliche Tage zurück bekam er 500 Schilling, 8 US-$, weit weniger als er erwartet hatte. Nie wieder wollte er sich auf solch ein gefährliches Abenteuer einlassen. Später verdiente er als incentive worker für eine türkische Organisation genug Geld, um seine Frau Billai zu heiraten.

Rawlence erzählt die Geschichte von Isha, die mit ihrer Familie ihr Land verlassen musste: die Dürre, Al-Shabaab, die USA, alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Wegen der von Al-Shabaab geforderten Abgaben wurde der Hunger in den letzten drei Jahren vor ihrer Flucht zum Alltag. Die Dürre verschärfte die Situation. Doch wegzugehen hieß auch, das gesamte Land zu verlieren. „Schon am nächsten Morgen würde irgendjemand Anspruch darauf erheben“9. Schließlich brach sie mit sieben anderen Familien Richtung Dadaab auf.

Auf der Flucht wurden sie von Bewaffneten jeglicher Couleur bedroht. Die Vergewaltigungen von Asylsuchenden nahmen epische Ausmaße an. Ganze Familien gingen zu Grunde. Für die Polizei auf beiden Seiten der Grenze war der Flüchtlingsstrom die einmalige Chance, reich zu werden10.

Nach drei Jahren im Lager ergab sich für Isha eine „Perspektive“: Da ihr Block überdurchschnittlich von Vergewaltigungen betroffen war, wollten „Inder“ bei ihnen Solarlaternen aufstellen. Dafür brauchten sie am besten analphabetische Großmütter die bereit waren, für ein halbes Jahr nach Indien zu gehen, um sich dort als „Solartechnikerinnen“ ausbilden zu lassen. Bei ihrer Rückkehr würde die Gemeinschaft Geld in einen Solarfonds einzahlen, aus dem die Frauen dafür bezahlt würden, in ihrem Block Solaranlagen zu installieren und zu warten11. Obwohl sie nicht zur Zielgruppe gehörte – sie war weder Großmutter noch Analphabetin – bekam sie eine Zusage für den Job. Sie gab für die geplante Reise ihr Geschäft auf, doch der Traum zerplatzte. Niemals kam sie nach Indien und auch die Solarlaternen erleuchteten niemals ihr Viertel.

Rawlence erzählt die Geschichte des Ladenbesitzers „Professor White Eyes“, der als Kind mit seiner Großmutter nach Dadaab gekommen war. Vom Wasserträger arbeitete er sich zum Schubkarrendienst hoch, dann verkaufte er Eis. Mit dem Gewinn konnte er sich einen kleinen Lebensmittelladen mieten. Als Angehöriger eines kleinen Clans verstand er sich auf ein „Nischengeschäft“: „Er verkaufte speziell an die Angehörigen niedriger Clans, die froh waren, bei einem der Ihren einkaufen zu können“12. So erlangte er einen bescheidenen Wohlstand und heiratete. Doch als der Krieg ins Lager kam, weigerte sich sein Lieferant aus Garissa, weiter zu liefern. Innerhalb einer Woche war er bankrott. Er fand ein bescheidendes Einkommen bei einer Maismühle im Lager.

Unglücklich war er darüber, dass seine Frau nicht schwanger wurde. Heimlich hatte sie sich Verhütungsmittel spritzen lassen. Als er es durch Zufall erfuhr und sie zur Rede stellte antwortete Sie: „In diesem Dreckslager bringe ich keine Kinder zur Welt“. Die Ehe wurde geschieden.

Er heiratete erneut und erhält schließlich einen begehrten und gutbezahlten Job als Flüchtlingsreporter bei einem Radio. Die Manager des Senders waren kenianische Somalis, die auf die Vorschriften pfiffen, und bezahlten Somalis und Kenianer gleich.

Rawlence erzählt die Geschichte der Gruppe der 92er. Sie sind mit der ersten Welle aus Somalia gekommen, sind im Lager aufgewachsen und im Jahre 2011 zwischen 20 und 40 Jahre alt. Sie gehörten zur ersten Generation, die vollständig im Lager aufgewachsen war – mit kenianischer Schulbildung, mit den liberalen Idealen der globalen NGO-Kultur und mit Begriffen wie „Gender mainstreaming“ und Menschenrechten. Sie sprachen und schrieben perfekt Englisch und Suaheli. Viele ihrer Freunde waren nach Europa oder Nordamerika entkommen. Sie verfolgten deren (vermeintliche) Fortschritte auf Facebook. Sahen Autos, Kleider, unverschleierte Frauen. Und hingen mit ihrem bescheidenen Einkommen als incentive worker im Lager fest.

Sie waren eine eng verbundene Gruppe. Sie sahen sich als Führungsriege von morgen und in diesem Selbstbild wurden sie durch die Rhetorik zahlloser NGO-Workshops und -Seminare bestärkt. Sie hatten die politische Korrektheit, den Bürokratismus und sogar den Kleidungsstil der NGOs übernommen. „Sie glaubten an einen Standard, an eine Normalität, die in Amerika, in Europa, bei den Vereinigten Nationen [vermeintlich] existierte, und für diese Normalität übten sie: für eine demokratische Zukunft, die ihr Erbteil war und die sie verwirklichen würden. Als fehlte dem wild zusammengewürfelten Haufen aus Verbrechern und Warlords, die derzeit in Somalia herrschten, nicht mehr als ein solides liberales Fundament“13.

Von der Mehrheit ihrer Altersgenoss_innen, die keinen Platz in einer Schule erhalten hatten, trennten sie Welten.

Rawlence erzählt die Geschichte der Somalierin Muna unddes sudanesischen Flüchtlings Monday14. Muna, die als eine der ersten Flüchtlinge 1991 nach Dadaab gekommen war, gehörte zur Gruppe der 92er. Nachdem ihr Mann verstorben war, wurde sie mit ihrem Schwager zwangsverheiratet. Sie fühlte sich sicher, so sicher, dass sie es wagte zu rebellieren. Sie verließ ihren zweiten Mann, ließ ihre Tochter bei der Mutter und fand einen Job bei der deutschen GIZ im Lager. Wie alle GiZ-Mitarbeiter_innen lebte sie auf dem Gelände der UNO, außerhalb der Reichweite ihres Mannes. Dort traf sie Monday, der sich in sie verliebte und sie schwängerte.

Dass ihre Beziehung missbilligt werden würde, war ihnen klar, doch hatten sie das Ausmaß und die Inbrunst des Kulturkampfes unterschätzt, der die somalische Gesellschaft erfasst hatte, seit durch den Krieg der konservative Islam derart erstarkt war. Monday wurde von einem somalischen Mob überfallen, weil er mit Muna angebändelt hatte, Muna von den eigenen Verwandten.

Nach der Geburt der gemeinsamen Tochter verlegte die UN alle drei in den Teil des Lagers, der Transit Center genannt wird. Ursprünglich für Leute eingerichtet, die auf ein Flugticket ins Ausland warteten, wurden nun hauptsächlich gefährdete Flüchtlinge dort untergebracht. Doch die Bedrohungen hörten nicht auf. Wegen „Diskriminierung aus rassistischen und religiösen Gründen“ strengte die UNO ein „Eilverfahren“ zur Neuansiedlung in Australien an. Die jahrelange Warterei zermürbte sie und ihre Beziehung. Muna suchte bei Alkohol, Drogen und einem anderen Mann Trost.

Schließlich versöhnten sie sich wieder, ein zweites Kind wurde geboren, doch die australische Regierung hatte die kleine Familie einfach vergessen. Jahre nach Beginn des „Eilverfahrens“ hockten sie immer noch im Lager

Rawlence erzählt die Geschichte des Jugendvertreters Tawane, der sich für das UNHCR und das Lager aufrieb. Er gehörte wie Muna zu der Gruppe der 92er. Er engagierte sich für den UNHCR. Als der Krieg im Lager ausbrach, wurde er zu einer der wichtigsten Verbindungsmänner der Flüchtlingsverwaltung im Lager und organisierte das Überleben in seinem Viertel. Ein nicht ungefährlicher Job. Als er deswegen mit dem Tode bedroht wurde, ließ ihn der Apparat, für den er täglich sein Leben aufs Spiel setzte, im Stich. Er floh nach Nairobi, doch „als armer Mann kann man es in Nairobi nicht aushalten“ stellte er fest. Nach drei Tagen fuhr er wieder „ nach Hause“ zu seiner Familie ins Lager.15

Rawlence16 erzählt die Geschichte von Tawanes Freund Fish. Fish schafft es aus Dadaab nach Nairobi. Er fand ein prekäres Auskommen in den somalischen sozialen Netzwerken in Eastleigh, stetig schikaniert von der örtlichen Polizei. Es gelang ihm sogar, sich an der Universität zu immatrikulieren. Doch die Repression zwang ihn letztendlich, wieder in das Flüchtlingslager Dadaab zurückzukehren, das er einst voller Hoffnung in Richtung Nairobi verlassen hatte17. „Für Flüchtlinge wie für Nomaden war die Stadt ein feindseliger Ort“18.

Fish und Tawane gründeten später, als die kenianische Regierung mit den Rückführungen ernst machte, eine kleine NGO, die gegen Geld der kenianischen Regierung bei der Rückführung behilflich war.

Rawlence erzählt die Geschichte von Kheyro, auch sie eine 92er, die unter den schwierigsten Bedingungen im Lager versuchte, ihr Examen zu machen. In der Hoffnung auf all das, was sich ihr damit eröffnet: Chancen auf einen besseren Job oder gar darauf, dem Lager zu entkommen. Sie schaffte das Examen – nicht mit einer hervorragenden Note, die sie für das Ausland benötigte – aber immerhin reichte es für einen Job bei einer NGO.

Als der Krieg eskalierte und keine einheimischen Lehrer mehr im Lager tätig waren, bekam sie im „richtigen Kenia“, in Garissa, eine Ausbildung zur Lehrerin. Sie unterrichtete drei Fächer in Klassen von rund 80 Schülerinnen und Schüler. Sie bekam dafür rund ein Sechstel von dem, was die einheimischen Lehrkräfte verdienten, die nur ein Fach unterrichteten. Später arbeitete sie beim dänischen Flüchtlingsrat als Beraterin für Vergewaltigungsopfer.

Viele überlebten den Dampfkochtopf Dadaab, indem sie den Blick auf ein fernes Ziel richteten und sich mit aller Kraft ins Zeug legten. Doch das taten nur wenige. Den meisten war es der Mühe zu viel. Sie wurden von der Offenkundigkeit des Elends und der Hoffnungslosigkeit erdrückt.

  1. Geographie der Lager

Rawlence beschreibt die Geographie der Lager. Dadaab liegt im Kenianischen Niemandsland, im Norden und Osten herrscht Krieg, doch ein Grenzübergang war für die Flüchtlinge und Schmuggler in beide Richtungen möglich. Im Westen und Süden lag Kenia, verbotenes Gebiet. Die Straße nach Süden war voller Straßensperren mit gierigen Polizisten, In und zwischen den Lagern herrschte Bewegungsfreiheit.

Zu Beginn war es wie im Zoo, erinnert sich Munas Mutter, „überall waren Tiere“. Die Flüchtlinge jagten Gazellen, Zebras und Giraffen. Heute liegen die Lager in der Wüste. Als sie angelegt wurde, ließ die UN das Land roden, in den ersten zwanzig Jahren sank der Grundwasserspiegel von 10m auf 200m unter der Erdoberfläche. Massive Überbelegung, zu wenig Wasser, zu wenig Essen, zu wenig Feuerholz: „ein schmutzige, krankheitsgeplagter, ächzender Slum voller traumatisierter Menschen, die nicht genug zu essen hatten. Kriminalität und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung“19.

Am Rande der offiziellen Siedlungen entstanden reihenweise neue Hütten „aus gebogenen Zweigen und verflochtene Dornen, als gäbe es einen Immobilienboom“20, inoffizielle Siedlungen, „self-settled areas“ in der Sprache der UNO. Sie galten als der rauere Teil des Lagers, üble Viertel, Banditennester.

Hinter einem Splitterschutzwall liegt das fast fünf Quadratkilometer große, massiv befestigte Gebäude in dem das UNHCR und die internationalen Hilfsorganisationen untergebracht sind.

  1. Ökonomie der Lager

Rawlence beschreibt die Ökonomie der Lager: Für alle Neunankömmlinge war es wichtig, sich registrieren zu lassen. Die Grundversorgung erhalten nur die registrierten Flüchtlinge über das UNHCR, wobei sie häufig von den Angestellten des WFP, die die Rationen ausgeben, betrogen werden. Wenn Flüchtlinge das Lager verließen oder starben, nutzten Angehörige Lebensmittelkarten weiter oder verkauften sie. Manche hatten bis zu tausend Lebensmittelkarten, aber für die meisten erleichterten einzelne zusätzliche Karten ihr hartes Leben ein wenig. Später führte die UNO ein biometrisches System ein, um die Betrügereien zu verhindern. Die Zahl der Einwohner_innen reduzierte sich mit einem mal um rund 20%. Die Flüchtlinge nahmen das als Angriff auf ihre Lebensbedingungen war und wehrten sich21.

Für die Flüchtlinge war es verboten, in Kenia regulär zu arbeiten. Lediglich durch den Verkauf ihrer Lebensmittelrationen, durch prekären Jobs in der informellen Elendsökonomie als Händler, Fahrer, Schlachter oder als Niedriglohnangestellter (incentive worker) bei den Hilfsorganisationen konnte sie etwas Geld verdienen22. An jeder Straßenecke gab es kleine Verkaufsstände, an denen man kaufen konnte, was das UNHCR nicht gratis hergab.

Alle offiziellen Arbeitsstellen mit anständiger Bezahlung, bei der UNO,bei den Hilfsorganisationen, bei der privaten Sicherheitsfirma G4S und erst Recht bei der allgegenwärtigen Polizei blieben Kenianern vorbehalten. Ihr Einkommen wurde durch regelmäßige Bestechungsgelder der Flüchtlinge in erheblichem Maße aufgestockt.

Kenianische Geschäftsleute und Politiker verdienten sich währenddessen mit dem Aufbau und Betrieb von UNO- und NGO-Einrichtungen eine goldene Nase. Lukrative Verträge für die Reinigung, Verwaltung und Bewirtschaftung kamen hinzu.

Dann gab es noch die ausländischen Helfern aus dem Norden, bei denen ein Gehalt von 9.000 US-$ im Monat – steuerfrei! – nicht unüblich war.

Den Flüchtlingen verdienten als „incentive worker“ für die gleiche Arbeit wesentlich weniger als Einheimische oder gar die Internationalen: „Die incentiv worker sind das Rückgrat fast aller humanitären Organisationen in den Lagern und arbeiten oft härter als ihre vollbezahlten Kollegen. Von zwei Menschen, die Seite an Seite vergleichbare Aufgaben ausführen, verdient der eine etwa achtzig Dollar im Monat, der andere womöglich 9.000“23. Gelegentlich kommt es zu Streiks und Protesten gegen diese Ungerechtigkeiten, doch grundsätzlich hat sich an dem System bis heute nichts geändert.

Unter den Flüchtlingen zählten die incentive worker und die erfolgreicheren Geschäftsleute zum relativ wohlhabenden Mittelstand. Von den Kürzungen der Lebensmittelrationen waren sie kaum betroffen.

Die Nahrungsmittel, die von den Flüchtlingen verkauft wurden, gehörten zu den billigsten in ganz Kenia. Knapp ein Fünftel bezog das WFP aus der lokalen Produktion der Rest waren zum größten Teil Sachspenden, Überschüsse aus Europa und den USA. Sie drückten die Marktpreise in der ganzen Region.

Zentrum von Ifo 1 war der „Bosnische Markt“, ein riesiger Markt, auf dem man „alles kaufen“ konnte, wenn man das nötige Geld hatte. „Die Anarchie, die in dieser Grenzregion herrscht, bietet denen, die über Kapital und Beziehungen Verfügen und sie zu nutzen wissen, enorme Möglichkeiten. Auf der somalischen Seite wird der Handel von Al-Shabaab kontrolliert und besteuert, auf der kenianischen Seite von der Polizei. Weiter oben in diesem Gefüge sichern sich die kenianischen Politiker und somalischen Geschäftsleute ihren Anteil, so dass die Arbeiter auf dem Markt nur spekulieren können, was für Geschäfte da über ihren Köpfen abgewickelt werden. Die Händler auf dem Markt bilden die Mittelschicht im Lager, und sie sind die Mittelsleute, die mit beiden Seiten in Kontakt stehen: sie bezahlen sowohl Al-Shabaab als auch die Polizei. Es gibt Dollar-Millionäre unter ihnen, die im Wirtschaftssystem der humanitären Hilfe ein Vermögen gemacht haben: Sie schmuggeln Zucker, Nudeln, Reis, Milch, Schuhe, Autos und alles Mögliche andere nach Kenia, vermieten Autos an die Hilfsorganisationen, versorgen sie mit Essen und Getränken, bauen Bürogebäude. Die meisten dieser Unternehmer haben klein begonnen, mit Kapital, dass ihnen von Verwandten aus dem Ausland geschickt wurde. Für die Tausende aber, die sich abmühen, ist der Markt ein Höllenkessel aus Rivalität und Ungewissheit“24.

Die Märkte in den Lagern wurden von somalischen Clans kontrolliert. Diese Kartelle hatten große Macht, ihr Einfluss reichte einerseits bis in ihre somalischen Heimatorte, andererseits bis ins kenianische Parlament. Die Netzwerke von Wirtschaftstätigkeit und politischem Einfluss sind am Horn von Afrika fast identisch25.

Der „Zustrom“ weiterer Flüchtlinge verschlechterte die Situation am unteren Ende der Nahrungskette. Für jene, die auf die Hilfslieferungen der UNO oder den preiswerten Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen waren, verschärfte sich die Konkurrenz. Für die Geschäftsleute bedeuten mehr Menschen mehr Umsatz.

Besonders erwähnt Rawlence die Geschichte vom Zuckerschmuggel: kenianische Politiker, Polizisten und Kartelle die mit der kenianischen Regierung in Verbindung stehen, organisierten gemeinsam mit somalischen Händlern, die mit Al Shabaab in Verbindung stehen, dass „Kenias Kokain“ aus Pakistan oder Brasilien unbehelligt vom südsomalischen Hafen Kismayo nach Dadaaab gebracht wurde. Von dort wurde es unter Umgehung der absurd hohen Einfuhrzölle im Land verteilt. Die Schließung der Grenze 2007 erhöhte den Profit erheblich.

Rawlence thematisiert auch, dass die Auslandshilfe immer ein zentraler Bestandteil von Somalias Konfliktökonomie war, Gegenstand von Besteuerung und Kämpfen. Dass sich Warlords, fragwürdige NGOs und reiche Händler den Löwenanteil der Hilfsgüter unter den Nagel rissen. Dass die Hilfe erst einsetzte, wenn die Menschen bereits sterben, und dann in solchen Mengen, dass die Märkte der einheimischen Bauern zusammenbrachen. Und dass die regelmäßigen Waffen- und Munitionslieferungen aus den USA und Europa auf dem Bakaara-Markt in Mogadischu die Preise niedrig halten.

Da die Resettlement-Plätze in die reichen Länder heiß begehrt sind, werden auch sie zum begehrten Handelsgut: „Angeboten werden Fallberatung und das Aushandeln von Resettlement-Plätzen, die für bis zu 10.000 US-$ vertrieben werden“ 26.

  1. Hungersnot und Krieg

Rawlence beschreibt, wie 2011 die Hungersnot im Lager weltweit als Medienereignis vermarktet wurde. Junge Männer konnten als Mittelsmänner für ausländische Medien tausende Dollar pro Woche verdienen, während gleichzeitig 260.000 Menschen an Hunger starben. „Die Hungersnot war eine Verpflichtung, eine Last, eine Gelegenheit Geschäfte zu machen“.

Die größte Überraschung der Hungersnot war das große Engagement der Türkei. Türkische Helfer_innen verteilten Bargeld an die Flüchtlinge, bauten Latrinen, Schulen und Moscheen, schafften gewaltige Mengen an Lebensmittel heran und wurden zum zweitgrößten Arbeitgeber für incentive workers.

Als es im Oktober endlich anfing zu regnen, brachte das Wasser vor allem Überschwemmungen und Seuchen. Nachdem am 13.10.2011 zwei spanische Freiwillige von Ärzte ohne Grenzen entführt wurden, stellten die Hilfsorganisationen innerhalb von Stunden ihre Arbeit ein um die Flüchtlinge kollektiv zu bestrafen. Drei Tage später erklärte Kenia Al-Shabaab den Krieg und marschierte in Südsomalia ein.

Einerseits war der Krieg für viele Menschen, Einheimische wie Flüchtlinge, ein großes Geschäft. Im Kern war der Krieg aber vor allem ein Krieg gegen die Flüchtlinge: Ziel war es, in Südsomalia einen sicheren „Korridor“ zu schaffen, wohin die Flüchtlinge abgeschoben werden können.

Bis zu diesem Einmarsch verhielt sich Al-Shabaab vorsichtig im Lager. Es war der Ort, wo sie medizinische Behandlung erhielten und sich mit Nahrungsmittel eindeckten. Nach dem Einmarsch wurde Dadaab Kriegsschauplatz, mit verheerenden Folgen für die Flüchtlinge. Die Gewalt wurde zur Normalität.

Die Polizei fürchtete die Flüchtlinge jetzt. Polizisten verschärften den willkürlichen Terror im Lager und vergewaltigten mehrere Frauen. So wuchs auch die Angst der Flüchtlinge vor der Polizei.

Mehr als die Hälfte aller Al Shabaab-Kämpfer waren durch das brutale Vorgehen der Polizei motiviert – andere wurden mit der Aussicht auf Essen geködert27. Doch für die allermeisten Flüchtlinge im Lager war Al Shabaab ein Gruppe von Verrückten, Mördern und Verbrechern, mit denen sie nichts zu tun hatten und von denen sie niemanden kannten.

Als die Hilfswerke im Lager ihre Hilfsmaßnahmen einstellten, drohte eine humanitäre Katastrophe: Nahrungsmittel wurden nicht mehr verteilt, die Generatoren der Brunnen bekamen keinen Diesel mehr und die Krankenhäuser verwaisten. Gleichzeitig stiegen die Preise, zusätzlich erhob die Armee neue „Steuern“.

Die Gruppe der ’92er organisierten daraufhin die Menschen. In der Woche nach der Entführung hatte sich deren Autorität ohne formelle Handhabe wie von selbst etabliert. Sie sagten den Menschen, was zu tun sei und die Menschen folgten. Sie leiteten eine Großstadt ohne jegliches Budget, organisierten die Verteilung von Lebensmitteln, Sicherheit, Gesundheitsförderung, Wasser, Müllabfuhr. Doch „die Mortalitätsrate im unterbesetzten Krankenhaus stieg und stieg, und es starben Kinder, die eigentlich hätten überleben können“.28

Freiwillige Männer und Frauen patrouillierten nachts im Lager auf der Suche nach Sprengsätzen. Die Arbeit war gefährlich und die Polizei weigerte sich, sie zu tun. Unbekannte erschossen einige dieser Freiwilligen.

Das UNO-Gelände dagegen wurde immer aufwendiger gesichert.

Gleichzeitig schwoll der Flüchtlingsstrom aus den von der kenianischen Armee besetzten Gebieten im Süden Somalias bedrohlich an: „traumatisierte Flüchtlinge wankten in die Flüchtlingslager mit verzweifelten Geschichten über ihre vermeintlichen Befreier, von denen sie sich Schutz erhofft hatten und stattdessen beraubt und sogar vergewaltigt worden waren“29.

Für die kenianische Armee war der Feldzug dagegen ein riesiges Geschäft. Gemeinsam mit dem „Feind“ Al Shabaab engagierten sie sich in vielen lukrativen Geschäftsfeldern: Holzkohle, Autos, Zucker, Drogen, Waffen und Menschen30. Der Zuckerhandel lief völlig aus dem Ruder.

Die Lage im Lager eskalierte weiter. Attentate und Lynchmorde häuften sich. Immer mehr Polizisten wurden getötet. Der äthiopische Geheimdienst nutzte das Durcheinander, um Oppositionelle im Lager zu ermorden. Der aggressive Wahhabitsche Islam breitet sich zu Lasten der pazifistischen traditionellen Sufi-Mehrheit aus.

Das Welternährungsprogramm kürzte die sowieso schon kleinen Rationen um 20%. Später stellte es zusätzlich noch auf das billigere Sorghum um. Im November 2014 wurden die Rationen abermals gekürzt, diesmal um noch nie dagewesene 50%.

Die Fälle sexueller Gewalt nahmen um ein Drittel zu. Jede dritte Frau im Lager wurde überfallen31. Doch weil die Menschen im Lager sich organisierten, konnten sie zumindest die Flut der Vergewaltigungen stoppen.

Auch in Nairobi verschlechterte sich die Situation für die somalischen Flüchtlinge erheblich, besonders nach dem terroristischen Angriff auf das Westgate-Einkaufscenter im September 2013. Misshandlungen, Inhaftierungen und Erpressung durch die Behörden waren nun an der Tagesordnung32. In den ersten Aprilwochen 2014 wurden 4.000 Somalis in Nairobi festgenommen. Doch jeder potentielle „Terrorist“ konnte sich für 3.000 Shilling (keine 30 €) freikaufen. Die Gruppe ’92 gründete einen Selbsthilfefonds, um für Leute, die sie kannten, diese „Kaution“ zu stellen.

Aus Nairobi wie aus dem Lager gab es eine Massenflucht zurück nach Somalia, zurück in den Krieg. Doch der Eskalierende Krieg in Somalia trieb die Leute wieder zurück in die Lager. Rückführungsprogramme der UNO und der kenianischen Regierung – auf die auch die europäischen Regierungen setzten, um ihre eigenen Flüchtlinge loswerden zu können – floppten.

  1. Das Lager als Gefängnis

Die Anlage eines Flüchtlingslagers basiert auf denselben Grundprinzipien wie der Bau eines Gefängnisses: Sichtbarkeit und Kontrolle. Das Flüchtlingslager hat die Struktur der Bestrafung ohne vorherige Straftat33. Nicht die Resozialisierung, sondern die Sozialisierung im Sinne eines globalen Imperialismus ist das Ziel. Dabei setzt es auf eine gnadenlose Klassenspaltung, die im Grundschulalter einsetzt: wer einen der begehrten Volksschulplätze nicht bekommt, hat kaum noch eine Chance auf einen begehrten incentive-worker Job oder das Lager Richtung Nordamerika/ Europa zu verlassen. Sie sind von den Härten des Lagers und den Kürzungen der Rationen am meisten betroffen.

Ruanda und Äthiopien, die heute als die wirtschaftlich aufstrebenden Länder im Osten Afrikas gelten, haben wie Somalia mörderische Katastrophen in ihrer jüngsten Vergangenheit erlebt. Wir wissen nicht, wo Somalia in zwei, drei oder vier Jahrzehnten stehen wird. Wir wissen aber, dass ohne Mord, Terror und Traumatisierungen noch nie in der Weltgeschichte eine kapitalistische Entwicklung ausgelöst werden konnte.

Rawlence beschreibt aus der Sicht der Vertriebenen wie sie mit Mord, Terror und Traumatisierungen konfrontiert werden:

Er beschreibt den Terror gegen die Enteigneten, der sowohl in den Lagern, in Nairobi als auch in den Herkunftsgebieten groteske Formen annimmt. So müssen sich die Flüchtlinge permanent die Frage stellen, wo es sich denn weniger schlecht Leben lasse, im somalischen Krieg oder im kenianischen „Frieden“.

Er beschreibt Enteignung und Vertreibung der Flüchtlinge – Al-Shabaab, weitere somalische, kenianische, äthiopische Warlords und Politiker sowie imperialistische Kräfte arbeiten hier Hand in Hand.

Er beschreibt aus der Sicht der Ausgebeuteten, wie in dem spitzelverseuchten, knastähnlichen Lager völlig neue Formen kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse entstehen.

Er berichtet über die Ausbreitung von Marktverhältnissen als Folge der Enteignungen und Vertreibungen, über die Entstehung von neuen Eliten, die Bereicherung von somalischen und kenianischen Geschäftsleuten an der Arbeitskraft der Flüchtlinge und der internationalen Hilfe.

Er beschreibt die Verwobenheit von Politik und Geschäft, von Polizei und Al-Shabaab.

Er beschreibt, wie in den durch und durch rassistischen Strukturen der Lager ein völlig neuer Menschentypus aufwächst, „mit kenianischer Schulbildung, und den liberalen Idealen der globalen NGO-Kultur“.

Er beschreibt, wie sich imperialistische Staaten handverlesene Flüchtlinge für ihre Resettlement-Programme aussuchen, die mehr die Hoffnung als die reale Chance beinhalten, in eins dieser gelobte Länder umsiedeln zu können.

Er beschreibt, wie das Leben eines Europäers oder Amerikaners so viel mehr wert ist, als das Leben eines Afrikaners, und das Leben eines Kenianer so viel mehr wert als das eines Flüchtlings.

Er beschreibt das Erstarken des wahhabitischen Islams am Horn von Afrika, seine zunehmenden Brutalitäten im Kampf gegen „Unmoral“, Hexenglauben und andere „Irrationalitäten“.

Er beschreibt die Zerstörung der ökologischen Lebensbedingungen im Norden Kenias so wie in den Herkunftsgebieten in Somalia.

Er erzählt von einer Welt mit eigenen Regeln, eigenen Grenzen, eigenen Geschichten.

Er erzählt von einer vom UNHCR und den Hilfsorganisationen geschaffenen Gesellschaft.

Und weil er das alles aus der Sicht „von unten“ beschreibt, indem er die Berichte von neun Bewohner_innen des Lagers aufnimmt und die Kontakte mehrere Jahre lang vertieft, ist Rawlings Bericht nicht einfach nur eine Litanei des Elends. Im Mittelpunkt stehen die Bewohner_innen des Lagers, ihre täglichen Kämpfe, ihrer Arbeit, ihre Beziehungen, ihre Herkunft, ihre Träumen, ihre Strategien, ihren Erfolge und nicht selten ihr Scheitern. Vor allem beschreibt er, wie die Menschen nur überleben können, indem sie zusammenhalten, sich organisieren „wie sie es von zu Hause gewohnt waren“, egal gegen wen: gegen die Vergewaltiger, die kenianischen Behörden, die UNO und die NGOs, Al-Shabaab oder die Banditen im Lager.

Mit anderen Worten: Rawlence beschreibt, dass und wie die Menschen aus Somalia sich gegen die Morde, den Terror und die Traumatisierungen zu Wehr setzten. Er beschreibt implizit den erbitterten Widerstand somalischer Menschen gegen die Zumutungen der kapitalistischen Entwicklung. Viele hängen noch an ihren alten Verhältnissen, denen Marx schon im 19. Jahrhundert den Untergang an den Hals gewünscht hat. Andere träumen bereits von einer Fata Morgana, die sich Frieden nennt und Ausbeutung meint.

Für mich das Buch des Jahres 2016.

Ben Rawlence; Stadt der Verlorenen: Leben im größten Flüchtlingslager der Welt, München (Verlag Nagel & Kimche) 2016; 24,80 €

oder:

Ben Rawlence; Stadt der Verlorenen; Leben im größten Flüchtlingslager der Welt; Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) Band 1789; Bonn 2016; 4,50 € zzgl. Versandkosten (ab 1 kg Versandgewicht)

Originaltitel: City of Thorns; Nine Lifes in die World’s Largest Refugee Camp; London (Portobello Books) 2016

  1. Nachtrag

Anfang Mai 2013 kündigte der neugewählte Präsident Kenias, Kenyatta, erstmals die Auflösung der Lager an. Angeblich rekrutiere Al Shabaab im Lager und seien die Terroranschläge in Kenia in Dadaab organisiert worden. Doch Kenias Wunsch, die Lager aufzulösen, stand nicht nur das internationale Recht entgegen, „sondern auch die geballte Kraft der menschlichen Erfindungsgabe und Entschlossenheit, die es geschafft hatte, in dieser feindlichen Umgebung eine Stadt aus dem Boden zu stampfen“.34

Nachdem im Frühjahr 2016 die EU mit der Türkei ein sogenanntes Rücknahmeabkommen gegen syrische Flüchtlinge abgeschlossen hatte, fühlte sich die kenianische Regierung in ihrer Haltung bestärkt, dass internationales Recht gegenüber Flüchtlinge keine große Relevanz mehr hat. Ausdrücklich mit Verweis auf das EU-Türkei-Abkommen wurde die Schließung der Lager in Dadaab für Ende November 2016 angekündigt. Dass bereits fünf Millionen Somalis, mehr als 40% der Bevölkerung, zu wenig Nahrung haben, interessiert dabei nicht.

Bis September wurden knapp 20.000 Flüchtlinge (von ca. 400.000) mit Hilfe des UNHCR nach Somalia verbracht. Ihre Lebensbedingungen sind dort überhaupt nicht gesichert. Sie kehren zurück in den Krieg, sie leben in Slums oder provisorischen Lagern, hungernd, ohne Wasser, ohne Schulen und müssen sich die raren Ressourcen mit den im Land verbliebenen Internally Displaced People teilen.

Die kenianische Regierung behauptet, nur Freiwillige nach Somalia zurückzuführen. Einerseits sagt sie nicht, was sie denn mit den anderen, die nicht freiwillig zurückkehren wollen, zu tun gedenkt. Andererseits sammelten Amnesty International und Human Rights Watch zahlreiche Zeug_innenaussagen, die belegen, dass auf sie unzulässiger Druck ausgeübt worden war. Amnesty zitiert zwei Brüder, deren Vater bei der Rückkehr nach Somalia ermordet wurde, und die beide von Al Shabaab in Somalia zwangsrekrutiert wurden. Sie entkamen und kehrten ins Lager zurück.

Mitte November verlängerte die kenianische Regierung die Frist um sechs Monate. Die EU investiert unterdessen 50 Millionen € in Rückkehrprogramme nach Somalia. Wenn jetzt massenweise Flüchtlinge aus Kenia zurückkehren, lässt sich Somalia vielleicht doch als sicher einstufen – so wie Afghanistan.

1 Genau genommen liegen um die kenianische Stadt Dadaab vier Flüchtlingslager, Hagadera im Süden, Dagahaley, Ifo 1 und 2 im Norden.

2 genauer: „eine vom UNHCR und den Hilfsorganisationen erschaffene Gesellschaft“

3 Rawlence 2016 S. 66. Rawlence Recherchezeitraum überschnitt sich mit der Hungersnot 2010/2011. Während dessen strömten monatlich zehntausende Neuankömmlinge nach Dadaab.

4 Rawlence 2016 S. 43f.

5 Rawlence 2016 S. 53

6 Rawlence 2016 S. 83

7 Rawlence 2016 S. 243

8 Rawlence 2016 S. 93

9 Rawlence 2016 S. 77

10 Rawlence 2016 S. 102ff.

11 Rawlence 2016 S. 328f.

12 Rawlence 2016 S. 92

13 Rawlence 2016 S. 267

14 In Dadaab leben zu 96 % Somalier_innen, es leben dort aber auch Menschen aus Uganda, Kongo, Burundi, Ruanda, Äthiopien. Selbst schätzungsweise 40.000 Kenianer_innen leben „illegal in den Lagern, weil sie dort kostenloses Essen sowie kostenlose Ausbildung und Gesundheitsversorgung erhielten“ (Rawlence 2016 S. 110)

15 Rawlence 2016 S. 220

16 Rawlence 2016 S. 194-202; 247-252; 343-350; 362-368.

17 Z.B. wurden in den ersten Wochen im April 4.000 Somali unter „Terrorismusverdacht“ im Fußballstadion Kasarani in Nairobi eingesperrt, zwei starben. mit 3.000 Shilling konnte man sich freikaufen. „Terrorist“ oder nicht, egal! (Rawlence 2016; S. 365f.)

18 Rawlence 2016; S. 201

19 Rawlence 2016 S. 51

20 Rawlence 2016 S. 80

21 Später bei einer Impfkampagne musste die UNO allerdings feststellen, dass fast doppelt so viel Personen geimpft wurden, wie im Lager registriert waren.

22 „Dadaabs Wirtschaft basiert auf der Tatsache, dass die Lebensmittelrationen das einzige Einkommen darstellen, was bedeutet, dass man für alles, was man im Lager erwirbt, mit Hunger bezahlt“ Rawlence 2016 S. 57

23 Rawlence 2016 S. 339

24 Rawlence 2016 S. 61f.

25 vgl. Rawlence 2016 S. 68f.

26 Rawlence 2016 S. 215

27 Rawlence 2016 S. 293, 312

28 Rawlence 2016 S. 183

29 Rawlence 2016 S. 236

30 vgl. Rawlence 2016 S. 238ff.

31 vgl. Rawlence 2016 S. 240

32 vgl. Rawlence 2016 S. 248ff.

33 vgl. Rawlence 2016 S. 131

34 Rawlence 2016 S. 371