Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert.
Dass Afrika seit 2 Jahren nicht mehr als Kontinent des Hungers und der Seuchen dargestellt wird (obwohl weiterhin gehungert und gestorben wird), sondern als Kontinent der „Partnerschaften“ und gar als „Chancenkontinent“, hat etwas zu tun mit dem Jahr 2015, dem Jahr der Migrationen. Seither geht es um nichts anderes mehr als die Blockierung der Migrationsbewegungen, und zumal, wenn es sich bei den Migrant*innen um subsaharische Afrikaner*innen handelt. Europa setzt auf die Externalisierung der Europäischen Außengrenzen, indem es Grenzen durch Afrika zieht. In den ersten 15 Jahren seit 2000 hat Europa in die Aufrüstung der Afrikanischen Grenzen 2 Mrd. Euro investiert – bis 2020 sollen es 14 Mrd. Euro sein und wahrscheinlich noch mehr. „Deutschland ist das Kraftzentrum der neuen EU-Afrika-Politik“, schreiben Jakob und Schlindwein, und das ist sicherlich richtig, trotz der selbstbewussten Politik des Neuen Napoleon und trotz der zweifelhaften Alleingänge des Italienischen Innenministers in Libyen.
Die Hoheit über Migrationsprozesse wird in Europa, und zentral natürlich in Deutschland, zu einem Essential der kontrollierten Demokratie und des Europäischen Projekts überhaupt stilisiert. Dass dies, in Anbetracht der vergleichsweise geringen Zahl der Ankünfte der Migrant*innen, ein sozialtechnisches Manöver ist und dass es vor allem IT-Unternehmen sowie Rüstungs- und Sicherheitskonzerne in Europa sind, die von diesem Ansatz profitieren, das sind für Jakob und Schlindwein Ausgangspunkte für ihre Darstellung. Und sie verstehen es, die Widersprüche dieser fragwürdigen Europäischen Prämissen mit den Interessen „Afrikas“ herauszuarbeiten und Schlaglichter zu werfen auf die Kette der Ereignisse, die dem Sommermärchen von 2015 folgten. Schnelle Lösungen sind nicht zu erwarten: „Von geschützten Grenzen und der Öffnung der Märkte träumt die EU. Von geschützten Märkten und offenen Grenzen träumt Afrika. Solange dieses Interessensdilemma nicht gelöst ist, wird es keine echte Partnerschaft geben.“ Und auch, dass es der Kanzlerin und Macron vielleicht gerade soeben gelungen ist, einen neuen Dirty Deal mit Libyen zu lancieren, wird an diesem grundsätzlichen Dilemma nichts ändern. (https://www.welt.de/politik/ausland/article171107465/Merkels-spontaner-Fluechtlings-Deal-fuer-Libyen.html)
Simone Schlindwein und Christian Jakob recherchieren zu diesem Thema schon seit Jahren. Ihr Buch ist die erste umfassende Darstellung der neuen europäischen Afrikapolitik. Was dieses Buch aber in besonderer Weise auszeichnet, ist, dass es sich auf ein Recherche-Projekt der taz stützt – die Dokumentation unter www.taz.de/migrationcontrol kann zu dem Buch parallel gelesen werden. Allein schon der Zeitstrahl, auf dem leicht zu erkennen ist, wie die Euros den Migrationsbewegungen hinterherlaufen, ist überzeugend. Pro Asyl hat eine Liste der Abkommen und Strategiedokumente seit 1990 beigesteuert, und eine große Zahl von Unterstützer*innen hat Recherchen, Texte und Dokumente zusammengetragen.
Die Systematik der Website ergänzt sich sehr schön mit dem Buch selbst, in dem sich historisch orientierte Kapitel mit journalistisch präsentierten Streiflichtern abwechseln, wobei es zwangsläufig zu einer Reihe von Überschneidungen und Querverweisen kommt. Das hat indes den Vorteil, dass einzelne Abschnitte auch separat gelesen werden können. Das Buch ist in fünf Teile gegliedert. Es beginnt aktuell, mit den „Partnerländern“, Eritrea, Äthiopien und dem Sudan, wo die Dhafur-Milizen inzwischen die Überwachung der Grenzen übernommen haben – mordsmodern aufgerüstet von der EU, sodann mit einem Rückblick auf die Geschichte der Migrationswege seit den 90er Jahren, wobei die großen Wendepunkte, der Arabische Frühling 2011 und das Jahr 2015, gut herausgearbeitet werden, sowie mit einer Beschreibung des Valetta-Prozesses. Wäre das Buch nur wenige Wochen später erschienen, hätten die neuen Entwicklungen in Libyen ein weiteres Kapitel abgegeben, denn auch hier werden Milizen als Küstenschutz und Lagerverwalter aufgerüstet.
Im zweiten Teil wird zunächst der EU-Türkei-Deal noch einmal geschildert, bevor die Flüchtlingspolitik Israels als Modell für Europa gewürdigt wird: nicht nur der Bau des Grenzzauns zum Sinai im Jahre 2011, sondern auch die informellen Rückführungsabkommen mit Uganda und Rwanda, wohin subsaharische Migrant*innen jeglicher Herkunft seit 2014 abgeschoben werden – ein Modell, das den Hintergrund zum EU-Türkei-Deal, aber auch zu den angestrebten Vereinbarungen mit Ägypten, dem Sudan, Libyen und anderen bildet.
Im dritten Teil stehen afrikanische Perspektiven im Mittelpunkt: die Ökonomie der „Schlepper“, die Willkommenskultur in Uganda als positives Beispiel und die innerafrikanischen Migrationsprozesse. All dies ist auf 20 Seiten nur allzu kurz und journalistisch abgehandelt, selbst wenn das erste Kapitel im vierten Teil hinzugezählt wird, das auf die Ökonomie der Transsahara-Migration eingeht. Sowohl zur Ökonomie der Sahara als auch zur Afrikanischen Migration gibt es signifikante Literatur, die leicht hätte berücksichtigt werden können.
Seine Stärken hat der vierte Teil allerdings in der Schilderung der „Abschiebehindernisse“, mit denen die sogenannte „AG Rück“ zu kämpfen hat und die den Hintergrund der deutschen Afrika-Diplomatie bilden, in der Schilderung der Umorientierung der „Entwicklungspolitik“ und der GIZ auf Migrationsverhinderung, in der Darstellung von Frontex und dem Kapitel über die Neuen Grenztechnologien in Afrika. Auch das Kapitel über die zentrale Mittelmeer-Route ist gut lesbar. Was fehlt, ist die Aufrüstung der Sahel-G5-Staaten einschließlich des Europäischen und US-amerikanischen direkten militärischen Engagements, und natürlich fehlt das letzte Kapitel der dramatischen Entwicklungen in Libyen. Es wäre schön, wenn diese Defizite auf der Website bald ausgeglichen werden könnten!
Der fünfte Teil dann dreht sich um die Öffnung der Märkte, und das Fazit resümiert noch einmal den fundamentalen Gegensatz der Interessen Afrikas und Europas. Aber wessen Interessen genau? Für „Europa“ ist das vielleicht klar, aber wer ist „Afrika“? Der „dreißigjährige“ Afrikanische Krieg hat Spuren der Zerstörung des Sozialen hinterlassen und neue Eliten hervorgebracht. Wir müssen sicherlich lernen, da besser zu differenzieren und die Parteilichkeit für wen genauer zu bestimmen. Aber wir wollen nicht mäkeln. Alles in allem ist das ein gutes Buch, das erste und das beste zum Thema, gut recherchiert, flott zu lesen. Und einzigartig, zusammen mit dem zugrundeliegenden Rechercheprojekt.
Christian Jakob, Simone Schlindwein, Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert. Ch. Links Verlag, Berlin , Oktober 2017, 317 Seiten, 18 €