„Wo es Revolution gibt, gibt es einen Treffpunkt – denken Sie an den Tahrir-Platz in Ägypten, den Taksim-Platz in Istanbul, die Habib Bourguiba Avenue in Tunesien.“
Durch telefonischen Kontakt mit mehreren Demonstrant*innen und Durchsicht vieler Fotos und Videos in sozialen Netzwerken haben wir versucht herauszufinden, wie die Besetzung von Al Qyada im Alltag aussieht und wie sich die Menschen dort organisieren.
Seit dem 6. April ist der Al-Qyada-Platz am Armeehauptquartier in Khartum von mehreren hundert Demonstrierenden besetzt. Diese Zahl steigt im Laufe des Tages auf mehrere tausend, und einige Leute sprechen von 2 Millionen Menschen, die sich am 2. Mai dort versammelt haben. Warum dieser Ort und nicht ein anderer? Die sudanesische Architektin und Forscherin Amira Osman erklärt in einem Interview mit dem African Arguments Magazine:
„Wo es Revolution gibt, gibt es einen Treffpunkt – denken Sie an den Tahrir-Platz in Ägypten, den Taksim-Platz in Istanbul, die Habib Bourguiba Avenue in Tunesien. (….) Als Architektin, die öffentliche städtische Räume studiert, und als Sudanesin hatte ich mich seit Dezember 2018 – als sich die Demonstranten gegen das Regime von Omar al-Bashir erhoben – gefragt, welcher Platz zum sudanesischen Äquivalent des Tahrir-Platzes werden würde. (….) Einige der offenen Räume Khartums, wie Al-Saha Al-Ghadraaa, haben historische Verbindungen zur Macht von Al-Bashir und wären für die Demonstranten nicht akzeptabel gewesen. Andere haben einen immensen Symbolwert, stellen aber Fragen über ihre Verbindungen zu bestimmten politischen Parteien. (….) Schließlich trafen sie eine symbolische Wahl: Die Demonstrierenden wussten, dass die Zusammenarbeit mit der Armee notwendig war, um den Regierungswechsel einzuleiten.“
„Es liegt in meiner Verantwortung als sudanesische Bürgerin„, erklärt Shaza Mustapha. Ich erfülle meine Rolle in der Bewegung, indem ich fast jeden Tag mit den anderen auf dem Platz bin. Wir versuchen, unsere Forderungen durch den Militärrat zu bringen. Dies ist ein wichtiger Moment, und es ist eine friedliche und wirksame Aktion zur Unterstützung unserer Ziele.
„Auf dem Platz ist klar, dass politisches Engagement nicht mehr über Parteien und die traditionellen Kanäle, kommt„, sagt Aya, die von Anfang an am Sit-in beteiligt war. „Die überwiegende Mehrheit der Menschen auf dem Platz sind Studierende und junge Hochschulabsolvent*innen, aber auch viele einfache Bürger*innen“.
Neben den Bewohner*innen aus Khartum und der näheren und weiteren Umgebung kommen auch ganze Buskonvois aus anderen Regionen und Städten, unter anderem letzte Woche aus Darfur. Einige von ihnen haben 1.500 Kilometer zurückgelegt, um sich der Besetzung auf dem Platz anzuschließen. Bei ihrer Ankunft jubelte die Menge und sang Lieder, hielt Reden und rief Slogans, darunter als eine der Schönsten „ya unsuri ya maghrur kul el-balad darfour“ („hey du Rassist und du Arroganter, das ganze Land ist Darfur – wir sind alle Darfur“), die den ganzen Abend über nachhallten.
Dieser Platz ist ein Treffpunkt zwischen verschiedenen Regionen, Berufen, aber auch sozialen Schichten. Die Demonstrierenden bezeugten auch in sozialen Netzwerken, dass sie bei der gemeinsamen Besetzung des Ortes viel über ihre sprachlichen und sozialen Unterschiede erfahren haben.
Shaza beschreibt:
„Auf dem Platz gibt es alle möglichen Aktivitäten, Diskussionen und Reden. Zur Kultur, zur Politik. Es gibt wirklich eine Menge Dinge, die vor sich gehen. Ich würde sagen, dass keine zwei Tage sich gleichen. Auf dem Platz herrscht eine sehr lebendige Atmosphäre. Wir können nicht nur rumsitzen und nichts tun, es gibt so viele Diskussionsgruppen und Aktivitäten, es ist toll. Den Rest der Zeit versuchen wir, den Ort sauber zu halten. Und sicherzustellen, dass jeder Zugang zu Essen und Trinken hat.
Wenn Sie in der Nähe des Platzes ankommen, müssen Sie zuerst kleine Sicherheitscheckpoints passieren, wo junge Leute, Mädchen und Jungen die Leute durchsuchen, die das besetzte Gebiet betreten wollen. Es herrscht eine gute Atmosphäre, die Menschen gehen sehr respektvoll miteinander um, alle verstehen die Notwendigkeit, unsere kollektive Sicherheit zu gewährleisten. Sie konfiszieren Messer und scharfe Gegenstände. Dann geht es weiter zum Hauptplatz, wo es Wasser- und Lebensmittelverteilungspunkte und alle möglichen Aktivitäten gibt.“
Aya erzählt über die Eingangspunkte zum Platz:
„Es gibt Menschen, vor allem junge Leute, die für die Bewachung der Barrikaden verantwortlich sind. Sie sammeln Material, um die Barrieren auf den Straßen, die zum Platz führen, zu verstärken. Sie stellen sicher, dass Hindernisse nicht beseitigt werden. Sie wechseln sich an den Eingangspunkten ab, sie sind es, die es ermöglichen, dass die Besetzung weitergeht.“
Am 30. April hatte der Militärrat die Demonstrant*innen aufgefordert, den Zugang zu den Straßen frei zu halten und Barrikaden zu beseitigen. Als Reaktion darauf hatten die Demonstrant*innen sie verstärkt und Menschenketten gebildet, um jeden Versuch des Militärs, sie zu entfernen, zu verhindern. Gestern erschienen auf den Barrikaden humorvolle Schilder in Englisch und Arabisch mit der Botschaft „Entschuldigung für die Wartezeit, wir entwurzeln das Regime“ oder „Danke für Ihre Geduld, wir sind hier, um zu bleiben„.
Tagsüber versammeln sich die Menschen auf Stühlen oder Bürgersteigen, um zu plaudern, Karten zu spielen, Debatten zu organisieren oder Tee zu trinken. Zelte und Planen geben Schatten und schützen vor der Hitze. Gestern hatten wir in Khartum 45 Grad, aber gefühlt waren es 50 Grad.
Diskussionsworkshops werden von Studierenden oder Freiwilligen organisiert, die mit der Alliance for Freedom and Change verbunden sind. Ihre Aufgabe besteht auch darin, die jüngsten Beschlüsse des Bündnisses, das die Verhandlungen mit dem Militärrat führt, zu erläutern und die Kommuniqués der sudanesischen Berufsvereinigung zur Verbreitung von Informationen und Debatten zu lesen und zu verteilen. Auch spontan entstehen Diskussionen und Reden zwischen den Menschen auf dem Platz. Das Reden und Diskutieren wird gefilmt, und kann so schnell Hunderte oder sogar Tausende von Aufrufen erreichen. Andere rufen Slogans oder Parolen, die von Menschen um sie herum wiederholt werden.
Aya setzt ihre Beschreibung fort:
„Es gibt Ecken mit jungen Leuten, die singen, Texte rezitieren oder Gedichte schreiben. Es ist nicht nur einfach ein Lied oder eine Poesie, es sind Texte und Musik im Zusammenhang mit der Revolution. Es gibt große Sänger*innen, die zu revolutionären Konzerten und Abenden kommen, wie Abu Al-Araqi. Heute Abend wird Mohamad Al-Amine kommen. Es gibt Menschen, die Reden halten, um die Menschen auf die Situation in der Region aufmerksam zu machen, auch um zu erklären, warum wir dort bleiben müssen, um den Menschen ihre Kraft zurückzugeben.
Kleine Gruppen von Menschen versammeln sich, um zu singen, gemeinsam Musik zu spielen.
Es wurden auch temporäre Schulklassen eröffnet, wo Kinder mit Notizbüchern, Blättern, sorgfältig kopierten Buchstabenreihen und unter der Aufsicht von ehrenamtlichen Lehrer*innen lernen. Die „Klinik“ wird von Apotheken und Krankenhäusern mit Medikamenten versorgt und bietet freien Zugang zur Pflege. „Es gibt Menschen, die sich um Menschen kümmern, die krank sind und Menschen, die pflegebedürftig sind, es gibt mehrere kleine Gesundheitsstützpunkte, die sich um diese Menschen kümmern. Es gab Menschen, die bei den Demonstrationen verletzt worden waren, aber auch Menschen, die durch die Hitze, durch Sonnenstiche geschwächt waren„, erklärt Aya.
Wasserspender und Toiletten wurden installiert und werden regelmäßig gewartet. Auch elektrische Generatoren wurden aufgebaut. Weiter entfernt befinden sich auch kleine Stände und Bibliotheksecken. „Die Bücher werden auf Planen auf dem Boden abgelegt. Du kannst sehen, was da ist und wählen, was du willst„, fügt Aya hinzu. Die Menschen kommen, um zu schauen, sich ein Buch zu leihen, sich nieder zu hocken oder sich ein wenig abseits hinzusetzen, um zu lesen. Es gibt Literatur, Philosophie und Bücher der politischen Theorie. Einige der Bücher, die dort zu finden sind, wurden vom Regime verboten.
„Essen und Wasser kommen den ganzen Tag über an. Es gibt keine bestimmten Mahlzeiten am Tag, aber auf jeden Fall bringt jeder etwas mit. Wenn ich nach Hause gehe und danach zum Platz zurückkomme, gehe ich nie mit leeren Händen. Ich nehme Dinge zum Essen und Flaschen mit Wasser mit, um sie auf den Platz zu bringen, Tee, Kaffee, Sandwiches, ich kaufe Dinge zum Essen. Ich gehe auf die Menschen zu, ich stell mich irgendwo hin, und wer Lust hat, kommt und nimmt sich etwas. Es läuft völlig zwanglos und natürlich. Einige nehmen sich etwas und verteilen es weiter. Es gibt auch Geschäfte und Unternehmen, die Verschiedenes, aber vor allem Getränke, verschenken. Und das ist das Wichtigste, denn es ist wirklich heiß.“
Täglich werden Demonstrationen und Kundgebungen organisiert, die von verschiedenen Gruppen oder Initiativen unterstützt werden.
„Heute um 15:30 Uhr organisieren Studierende, Hochschulabsolvent*innen und Lehrer*innen der Universität Khartum eine Demonstration, ebenso wie viele andere Gruppen oder Gewerkschaften, die mit dem sudanesischen Berufsverband und der Allianz für Freiheit und Wandel verbunden sind. Wir bringen Schilder, Poster, die unsere Botschaft verbreiten. Wenn es Demonstrationen gibt, verteilen Gruppen auch Flugblätter und Diskussionspapiere, zum Beispiel zum Thema >Zivile Transition< (Übergang vom Militärregime zu zivilen Regierungsformen). Die Demonstrationen sind wichtig, um unsere Forderungen zu stärken, und unsere Entschlossenheit zu zeigen. Das sind sehr wichtige Momente.“
Der wichtigste Ort am Abend ist die große Bühne, auf der sich Konzerte und Reden abwechseln. Viele unterschiedliche Redner*innen reden dort. Manchmal halten Besetzer*innen spontanen Reden, manchmal reden „Promis“, die zum Beispiel durch ihr Facebook-Leben bekannt wurden, durch ihre Videos oder durch ihre besonderen Talente – oder auch politischen Persönlichkeiten. Die Konzerte sind immer voll. Ayman Maos Konzert am 25. April soll mehr als eine Million Menschen zusammengebracht haben. Dies ist das erste Konzert des berühmten Rappers zurück in Khartum nach seinem Exil in den Vereinigten Staaten. Die Großleinwand ermöglicht es auch, Fußballspiele zu übertragen, die viele Menschen anziehen.
Die Versorgung und Ausstattung wird weitgehend durch Spenden aus der Diaspora, durch Fundraising in sozialen Netzwerken finanziert. Die jüngste Spendenaktion, die von Sudanesen in den Vereinigten Staaten organisiert wird, zielt darauf ab, Lebensmittel für das Fastenbrechen während Ramadan zu finanzieren.
Für diejenigen, die auf dem Platz schlafen, gehen die Aktivitäten bis in die Nacht hinein weiter, und manchmal sogar bis in die frühen Morgenstunden. In einem Video, das in sozialen Netzwerken kursierte, wurde eine kleine improvisierte Aufweckaktion gezeigt. Um diejenigen zu wecken, die noch schliefen, wurde Sabah al-kheir, Sabah al-kheir, Sabah al-kheir‘ (hallo, hallo !) gesungen, begleitet vom Klang von Trommeln.
Viele Mauern in diesem Gebiet und in den umliegenden Stadtteilen sind mit Wandmalereien und Gemälden verziert. Den ganzen Tag über versammelten sich Künstler*innen und Studierende, um sie zu produzieren. An den Wänden, die zur Klinik führen, befinden sich viele Wandmalereien mit politischen und revolutionären Botschaften, auf denen verschiedene Themen angesprochen werden: die Einmischung Saudi-Arabiens und anderer fremder Länder, Wandmalereien zur Erinnerung an die Märtyrer, die bei den Demonstrationen seit Dezember getötet wurden, Porträts in den Farben der „afrikanischen“ Flagge des Sudans oder patriotische und panafrikanische Botschaften.
„Wenn die Atmosphäre hier auch sehr ermutigend ist, ist es auch eine Atmosphäre der Unsicherheit„, sagt Shaza. „Unser Hauptanliegen, der Übergang zur Zivilregierung, ist noch nicht durchgesetzt. Die Allianz für Freiheit und Wandel hat einen Vorschlag für eine zivile Regierung vorgelegt, aber der Militärrat hat weiterhin die Macht. Die laufenden Verhandlungen konzentrieren sich auf die Frage nach dem Verhältnis von militärischer und ziviler Repräsentation in der Übergangsregierung. Der Militärrat will eine Mehrheit des Militärpersonals, was vom Bündnis abgelehnt wird. Wir warten ebenso wie die Allianz darauf, dass der Militärrat die Macht auf ein überwiegend ziviles Organ überträgt.“
Der Vermittlungsausschuss, der sich aus mehreren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zusammensetzt, wird sicherlich eine wichtige Rolle spielen. Dies ist der dritte Schwerpunkt der Verhandlungen. Dieser Ausschuss setzt sich aus Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zusammen, die beschlossen haben, die Verhandlungen zu unterstützen, um Blockaden zu vermeiden und den Prozess zu beschleunigen. Wenn der Militärrat die jüngsten Vorschläge der Allianz ablehnt, wird er sicherlich eingreifen.
„Ansonsten sind die Beziehungen zwischen Demonstrierenden und dem Militär auf dem Platz recht friedlich, ja sogar freundschaftlich. Einige Soldaten demonstrieren, singen und tanzen mit uns. Einige kommen, um mit uns auf der Straße zu schlafen, gehen mit den Sprecher*innen auf die Bühne, applaudieren, beteiligen sich. Die Menschen haben genug Vertrauen in die Soldaten, die bei uns vor Ort sind. Sie denken, dass sie uns auch gegen die Einsatzkräfte verteidigen können. Das Militär sagte, sie würden die Besetzung nicht mit Gewalt auflösen. Also haben wir im Moment eine ziemlich gute Beziehung zu ihnen. Das ist ziemlich neu für uns.“
Aya besteht darauf, dass es notwendig ist, die Besetzung am Leben zu erhalten:
„Unsere Waffe ist es jetzt, die Besetzung bis zum Sieg fortzusetzen. Die Menschen haben mit ihrem Blut bezahlt. Die Sudanes*innen müssen bleiben, bis wir sicher sind, dass wir gewinnen werden. Wenn der Militärrat jetzt den Prozess verschleppt, geht es darum, Zeit zu gewinnen, uns zu ermüden, zu sagen: >Nun, es ist nicht mehr so schlimm, wir können nach Hause gehen<. Nein, das ist nicht genug. Wenn wir jetzt nach Hause gehen, werden wir alles verlieren, was wir bislang erreicht haben“.
Wenn die Situation in Khartum und auf dem Platz mehr oder weniger stabil zu sein scheint, ist dies bei weitem nicht überall der Fall. Gestern wurden Demonstrant*innen in Nyala (Darfur) angegriffen und ein Sit-in von Sicherheitskräften gewaltsam geräumt. Mehrere Demonstrierende wurden schwer verletzt und eine Person wurde getötet. In der Erklärung zu den Ereignissen in Nyala verurteilt der sudanesische Berufsverbandes die Anwendung von Gewalt gegen die Demonstrierenden. Sie sehen die Gewalt als Beweis dafür, dass Bashir zwar gefallen ist, sein System aber noch nicht. Sie aktualisieren die Slogans: „Er ist immer noch nicht gefallen!“ (lam tesgut baad), oder „Ein Dritter muss fallen!“ (tesgut talet) – gemeint ist damit General Burhan, der seit Bashirs Fall und dem kurzen Regierungsintermezzo von Ibn Awfs als Dritter Präsident im Jahr 2019 den Sudan regiert.
Demonstrierende sind immer noch in Haft, darunter 15 seit einigen Tagen in Kordofan. Der Militärrat ist immer noch an der Macht, angeführt von Abdel Fatah Abdelrahman Burhan, ehemaliger Stabschef, und Hemedti, Kommandant der Spezialkräfte (Janjaweed).
Zuerst veröffentlicht bei Sudfa, 5. Mai 20191
1 Sudfa ist ein neues französisch-sudanesische partizipatives Medium: https://blogs.mediapart.fr/sudfa. Für die Entwicklung der Ereignisse und Anforderungen siehe auch den aktuellen Artikel „live aus Al Qyada“ (alles auf Französisch).