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Vorgelagertes Migrationsregime der EU im Niger

Am 9.12.2019 veröffentlichte ffm-online einen längeren Text von Laura Lambert über das westafrikanische Sahelland Niger.

Nach einem kurzen Überblick über die Migrationsbewegungen, die im Niger ankommen, die den Niger durchqueren und die in den Niger zurück kehren, ist der Schwerpunkt des Textes die ausführliche Beschäftigung mit EU-Projekten der Migrationsbekämpfung und -kontrolle in dem Land. Abschließend beleuchtet Lambert die Rolle der NGOs, der wirtschaftlichen Profiteure des Flüchtlingsmanagement und gibt einige (dürftige) Hinweise auf den Widerstand. Der zwanzigseitige Text (davon eine Seite Literaturverzeichnis) ist mit sagenhaften 180 Fußnoten belegt.

Migration hat in Afrika eine lange Geschichte, doch der allergrößte Teil der Migrierenden verlässt den Kontinent nie. Auch die Migrationsbewegungen durch die Sahara sind zu vier Fünftel inner-afrikanisch (vgl. S. 2)1.

Lambert unterscheidet vier verschiedene Phänomene im Niger:

– Migration und Vertreibung von im Niger ansässigen Personen,

– Niger als Transitland,

– Niger als Zielland,

– Niger als „Rückkehrkorridor“.

Viele Menschen im Niger müssen ihre Wohnorte wegen bewaffneter Auseinandersetzungen und kriegerischen Bedrohungen verlassen – allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2019 mehr als 110.000. Im Oktober 2019 lebten ca. 187.000 Binnen-vertriebene in dem Land (S. 1f.; 4).Zusätzlich ist der Niger seit den 1990er Jahren „zu einem bedeutenden Transitraum für die Migration aus West- und Zentral-afrika nach Libyen und teils weiter nach Europa geworden – und dies umso mehr, nachdem die anderen Migrationsrouten aus Westafrika über die Kanarischen Inseln und Mali blockiert wurden“ (S. 3).

Im „Zuge von Konflikten und Verfolgungssituationen in West- und Zentralafrika“ gibt es seit Langem Fluchtbewegungen von Menschen aus dem Tschad, Liberia, Elfenbeinküste, Nordnigeria oder der Zentralafrikanischen Republik in den Niger und neuerdings auch aus Libyen. Der Niger beherbergte im Oktober 2019 insgesamt 218.000 Geflüchtete.

Seit Beginn der Libyenkrise im Jahr 2011 kehrten zahlreiche Migrant*innen von dort in den Niger oder nach Westafrika zurück. Viele nicht freiwillig: 15.896 Menschen wurden 2018 in den Niger abgeschoben, darunter 6.705 Nigrer*innen und 9.191 Nicht-Nigrer*innen. Die wenigsten Nicht-Nigrer*innen wollen im Niger bleiben, die meisten wollen nach Europa. Doch die meisten bringt die IOM2 in ihre überwiegend west- und zentralafrikanischen Herkunftsländer zurück. „Weltweit lag der Niger damit nach Deutschland auf Platz 2 der durchgeführten‚ freiwilligen assistierten Rückkehr‘“ (S. 5).

Ausführlich schildert Lambert die unterschiedlichen Projekte der EU – eine enorme Fleißarbeit. „Im Rahmen der Entwicklungs-Kooperation beläuft sich die Unterstützung des Nigers auf über eine Milliarde Euro für den Zeitraum 2014-2020“ (S. 7). Die einzelnen Projekte hier aufzuführen, würde den Rahmen sprengen: Die EU und ihre Mitgliedsstaaten leisten Budgethilfen, schicken Polizist*innen, Soldat*innen, Geheimdienstler*innen und Frontex-Agent*innen. Schwerpunkt ist der Aufbau einer umfassenden Infrastruktur zur Migrationskontrolle („innovative Grenztechnologien“) sowie die Ausbildung von Repressionsarbeiter*innen, also vor allem Polizist*innen, Soldat*innen, Geheimdienstler*innen. Aber auch die lokale Bevölkerung wird von der EU in den Kampf gegen die Migration hineingezogen.

Ein weiterer Schwerpunkt der EU sind Rückkehrprogramme und Entwicklungsprojekte als „Alternativen zur Migration“. Die EU fördert Projekte der IOM, die die ‚freiwillige‘ Rückkehr von Migrant*innen aus dem Niger in ihre Herkunftsländer für insgesamt 22 Millionen Euro organisieren. „Mit der Rückkehrförderung verbunden wird die Unterbringung und Versorgung in den sechs Transitzentren im Niger, die Sensibilisierung von (potentiellen) Migrant*innen, Rettungsaktionen, das Monitoring von Migrationsrouten, die Unterstützung staatlicher Strukturen und die Reintegration finanziert“ (S. 10)

Durch Infrastrukturmaßnahmen, Förderung der Landwirtschaft, Berufsbildung und Unternehmensgründung werden – oft sehr kurzfristige – Arbeitsgelegenheiten bereitgestellt. Fraglich ist, inwieweit so langfristige Erwerbsperspektiven aufgebaut werden.

Neben europäischen Rüstungs-, Sicherheits- und Hightechfirmen gehören die Firmen in der Hand der „politischen Klasse“ Nigers zu den Hauptprofiteuren. Vor allem der Ausbau der biometrischen Erfassung der Bevölkerung verspricht für die Zukunft weiterhin enorme Profitmöglichkeiten.

Zahlreich sind die Gewinner, aber noch zahlreicher sind die Verlierer:

– die Migration in den Maghreb wird risikoreicher, länger und teurer. Neben den west- und zentralafrikanischen Transitmigrant*innen betrifft dies auch die Nigrer*innen selbst.

– für viele Geflüchtete bedeutet die Kriminalisierung der Transitmigration, dass sie womöglich im Niger oder in einem Nachbarland um Asyl nachsuchen müssen. Das ist häufig mit großen Schutzrisiken und begrenzten Überlebensmöglichkeiten verbunden.

– „Für Kommunen im Norden Nigers bedeutete der Wegfall der Transitökonomie den Verlust einer der wenigen verfügbaren Einkommensquellen. Dies ist bisher keineswegs durch Entwicklungsprojekte zu Einkommensalternativen abgefedert worden. Damit verbunden ist eine mögliche politische Destabilisierung im Norden Nigers und im Sahel“ (S. 18).

Der Text ist ein guter Einstieg für das Verständnis des migrationspolitischen Angriffs, der von Seiten der EU gegen die Bevölkerung des Nigers und die Migrant*innen dort geführt wird.

Doch abgesehen von der m.E. schlecht strukturierten Gliederung, die das Lesen und Verstehen (und erst recht das Rezensieren) unnötig verkompliziert, bleiben einige inhaltliche Unzulänglichkeiten:

Die wenigen Zeilen zum Widerstand wirken wie eine rangeklatschte Pflichtübung. Das ist schade, weil doch gerade die vielfältigen Widerstandsaktionen die großen Pläne der EU immer wieder scheitern lassen.

Bei der umfangreichen Beschreibung der Projekte der EU gehen die ökonomischen Auswirkungen der Angriffe völlig unter – mal abgesehen davon, dass überhaupt nicht klar wird, welche „Hilfen“ als Zuschuss und welche als Kredit (die Banken danken) geleistet werden.

Welche enormen Auswirkungen hat es,

• wenn einer der ärmsten Staaten der Welt in einen sogenannten Krieg gegen den Terrorismus mit hunderttausenden Vertriebenen reingezogen wird,

• wenn eine Milliarden Euro „Hilfs“gelder das Land fluten,

• wenn die Förderung der marktorientierten (!) Landwirtschaft, der Ausbildung zum Lohnsklaven und die Unterstützung bei Unternehmensgründungen (oft verbunden mit sogenannten Mikrokrediten mit Zinsraten bis zu 30%) Tausende in die kapitalistische Marktwirtschaft drängen sollen,

• wenn tausende Repressionsarbeiter*innen ausgebildet und bewaffnet werden?

Der Angriff ist umfassender, als nur die Bedingungen der Migration zu erschweren.

Abgesehen von diesen Kritikpunkten ist dem Rezensenten jedoch klar, dass ein solcher Text nicht alle Aspekte ansprechen kann. Und in der Fülle der Informationen über die vielschichtigen Angriffe der EU gegen die im Niger lebenden Menschen liegt sicherlich der große Wert dieser ausführlichen Fleißarbeit.

Laura Lambert, Niger; https://ffm-online.org/wp-content/uploads/2019/12/Lambert_migration-control_Niger_FINAL.pdf

1 Alle Zitate aus: Lambert 2019

2 International Organisation of Migration