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VON MORIA BIS HANAU – BRUTALISIERUNG UND WIDERSTAND

GRENZREGIME IV

VON MORIA BIS HANAU – BRUTALISIERUNG UND WIDERSTAND; GRENZREGIME IV von Valeria Hänsel/ Karl Heyer/

Matthias Schmidt-Sembdner/ Nina Violetta Schwarz (Hg.); Assoziation A Berlin / Hamburg 2022;

Der Band beginnt mit einem Vorwort der Herausgeber:innen und thematisiert in vier Teilen mit je drei bis sieben Beiträgen verschiedene Aspekte des EUropäischen1 Grenzregimes.

Dem Vorwort vorangestellt ist ein Zitat einer offenen Versammlung von Menschen mit und ohne Papier: „When we see European states with increasing development, it is the result of so many years of suffering, of forced labour from colonized countries. So if today, Europe is trying to deal with what it calls the ›migration crisis‹, it should refresh its memory. It should look at its archives, the texts and memories that have been overpowered by its ideologies, and which now return as a social phenomenon. The governments of the West did not ask permission when they came to our countries; why should we now ask for yours?“(7)2

Damit ist die Prämisse des Buches abgesteckt: Eine Legitimität des europäischen Grenzregimes wird aus grundsätzlichen Überlegungen abgelehnt.

Ausgangspunkt, so schreiben die Herausgeber:innen im Vorwort, ist der „massiven Backlash“ in den europäischen Migrationspolitiken nach dem „Sommer der Migration 2015“. Darüber hinaus stehen die Modernisierung des EUropäischen Grenzregime3 wie die „vielfältigen Praktiken des transversalen Widerstands“ im Mittelpunkt dieses Buches.

Die Herausgeber:innen stehen in der Tradition, Grenzen als gesellschaftliche Verhältnisse zu verstehen, als konflikthafte Aushandlungsfelder, als Orte der permanenten Spannung, die Reibungen und Brüche markieren – „mit Migration als treibender Kraft“(8) Sie stellen der rassistischen Gewalt und der nekropolitischen4 Abschottungspolitik in Europa eine „Autonomie der Migration“ (Moulier Boutang) gegenüber.

Sie betonen, dass für diese auf Abschreckung zielende Migrationspolitik die zunehmende Brutalisierung sowohl an den Grenzen EUropas als auch inmitten seiner Gesellschaften von zentraler Bedeutung ist. Als weiteren zentralen Baustein sehen sie die Fragmetierung des EUropäischen Grenzregimes durch Externalisierungspolitiken, Etablierung von „Räumen abgesenkter Rechtsstandards“, Einrichtung von Lagern („Campization“) und Absenkung grundlegender Rechtsstandards – Prozesse, die sich im realen Leben durchaus überschneiden. Und in weiteren Beiträgen ausführlich dargelegt werden.

Der erste Teil, „die postmigrantische Gesellschaft der Vielen und Kämpfe um Mobilität“, spiegelt eines der zentralen Anliegen der Herausgeber:innen wieder: „rassistische und rechte Gewalttaten sowie antirassistischen Widerstand mit den Umwälzungsprozessen des Grenzregimes aus der Perspektive der Bewegung der Migration zusammenzudenken“ (25).

Der erste Teil beginnt mit einem Beitrag der Hanauer Initiative 19. Februar über die Konjunkturen und Kontinuitäten rechten Terrors in Deutschland und dessen Verharmlosung, über behördliches Versagen vor, während und nach den Morden und über die Kämpfe um Gerechtigkeit der Initiative nach den rassistischen Morden im Februar 2020. Dabei diskutieren sie auch Konzepte wie „toxisch gekränkter Männlichkeit“ (Kracher) oder „stochastischem Terrorismus“.

An vier Punkte sehen sie Unterschiede in der staatlichen und medialen Reaktion auf die rassistischen Morde des NSU und in Hanau:

1. Zwar konnte auch in Hanau eine Verantwortung staatlicher Stellen benannt werden, eine direkte Beteiligung des Staates wie beim NSU scheint aber ausgeschlossen.

2. Heute ist eine Thematisierung rassistischer Morde und ihrer Dimensionen in der Öffentlichkeit präsenter als noch beim NSU dank der breiten Kritik an der staatlichen und juristischen Aufarbeitung.

3. Veränderungen innerhalb der Staatsapparate: „Der Korpsgeist bekam Risse“ (51). Seit dem antisemitischen und rassistischen Anschlag in Halle und dem Mord an Walter Lübcke (im Gegensatz zu den NSU-Opfern „einer von uns“ in der Logik der Herrschenden im allgemeinen, der CDU-Hessen im besonderen) werden nun auch dort rechte Gewalt und Strukturen als Gefahr für die Gesellschaft und das eigene Leben gelesen. Dabei sieht die Initiative die Gefahr, dass die „Erstellung oder Einhaltung neuer formaler Kriterien wie z.B. Antirassismus-Workshops für alle Beamt:innen… lediglich dazu dienen, das noch immer existierende Problem zu kaschieren“ (51f.).

4. Der wichtigste und entscheidendste Aspekt war die Selbstorganisierung der Betroffenen rassistischer Gewalt, „ausschlaggebend für ein punktuell verändertes Kräfteverhältnis in der Gesellschaft und Ausdruck des Kampfes der vergangenen Jahrzehnte“(52).

Das folgenden Interview mit Max Czollek und Çağrı Kahveci handelt von Kontinuitäten rechter Ideologien und den Konjunkturen antirassistischer Kämpfe und Solidarität.

Ausgehend von einer Kritik am „deutschen Gedächtnistheater“, dem „Integrationstheater“ und der „Wiedergutwerdung Deutschlands“ verweisen sie auf „Kontinuitätsgeschichte der deutschen Täter:innengesellschaft“ und die „Normalisierung rassistischer Aussagen“ seit 2015.

Die lauter werdenden migrantischen Kämpfe erzeugen Risse im Verständnis der weißen Mehrheitsgesellschaft genauso wie Gegenreaktionen.

Czollek kritisiert in diesem Zusammenhang die Instrumentalisierung der „>Figur des Judens< als >Opfer<“ als eine doppelte Abwehrstrategie: Einerseits zeige das öffentliche Ritual der Erinnerung, „dass man anders werden kann, auch ohne jemals wirklich in den Köpfen und Familien aufzuräumen“(67). Anderseits erlaube die permanente Verschiebung von Antisemitismus auf die migrantisierten Anderen, diese fortan als Ersatzgruppe für jede Form der Kontinuität verantwortlich zu machen. In diesem Sinne habe die sogenannte Vergangenheitsbewältigung ihren Anteil an der Normalisierung einer Kontinuität von Antisemitismus und Rassismus.

Çağrı Kahveci kritisiert, dass die Realität der Migration als normal betrachtet werde, ohne ihre prekäre Normalisierung und die damit einhergehenden marginalisierenden Kosten für Migrant:innen kritisch zu hinterfragen oder die sozialen Ungleichheiten dieser scheinbaren Normalität ändern zu wollen. Er verweist auf das Konzept der „generalisierten Domestizierung“ (Hage), die Schaffung einer Andersartigkeit zum Zwecke der Ausbeutung – physisch wie symbolisch: „Ich glaube, wir sehen diese Form der Domestizierung in den vorherrschenden Wahrnehmungen von Migration und Flucht im Spiel: Diejenigen, die man für Deutschland wertschätzen kann, zum Beispiel die entrechteten Billigarbeiter:innen wie die prekären Pflegekräfte oder neuerdings Amazon- oder Lieferando-Postbot:innen, werden teilweise integriert, indem sie extrem ausgebeutet werden, während diejenigen, die man nicht so einfach in die Produktion spannen kann, nicht unbedingt als Subjekte willkommen sind. Diese instrumentelle Logik ist am Werk, wenn die neoliberalen Eliten, die Startup-Blase usw. für Mobilität eintreten, um daraus Kapital zu schlagen. Aber das schützt natürlich weder die Rechte der mobilen Menschen und ihrer in den Herkunftsländern verbleibenden Familien noch bekämpft es die globalen Ausbeutungsverhältnisse, noch dient es der in politischen Kreisen so viel beschworenen Bekämpfung von Fluchtursachen.“

Czollek betont, dass rassistisch Diskriminierte sich aber nicht ausschließlich als Diskriminierte denken sollten „sondern auch als Menschen, die vom deutschen und europäischen Grenzregime profitieren“ (72). Er bezieht sich dabei auf sein Konzept der „komplexen Intersektionalität“, deren Pointe laute, dass „wir uns nicht nur in unserer komplexen Diskriminiertheit denken lernen, sondern auch in der Gleichzeitigkeit von Diskriminierung und Privilegierung“ (73). Er weist den vermeintlichen Gegensatz von Identitätspolitik und Universalismus zurück: Ausgangspunkt von Identitätspolitik waren die Befreiungskämpfe der Arbeiter:innen, Frauen und Schwarzen. Und dies lese sich nicht ganz zufällig wie aus einem Katalog für den „wahren Universalismus“. Der Universalismus, von dem die Links-Gestrigen reden oder schreiben war schließlich alles andere als universal (75).

Kahveci fordert angesichts der Notwendigkeit migrantischer Selbstorganisation die Solidarität verschiedener Bewegungen. Hilfreich sei, einen gemeinsamen Nenner zu finden für die unterschiedlichen Konzepte über die Möglichkeiten der Solidarität, wie transversale Solidarität (Yuval-Davis et al.), die Artikulation der Äquivalenzketten (Laclau/ Mouffe) oder das Konzept der Übersetzung (Mezzadra/ Neilson). Aber vor allem müsse praktische politische Subversion vor Ort angesehen werden.

Solidarität transzendiere „die kategorialen binären, identitären Einteilungen wie Innen/ Außen, Beschützer*in/ Geschützte*r etc. ohne die Asymmetrien und Singularitäten aus den Augen zu verlieren (…) Am Ende ist es die Politik der Emanzipation auf dem gemeinsamen Boden, die zählt.“

Anschließend beleuchtet Sabine Hess die Verschiebungen verschiedener Paradigmen des Regierens von Migration im EU-Grenzregime und liefert einen tiefgehenden, aber auch breiten Überblick über die Rekonfigurationsprozesse der vergangenen Jahre. Ausgangspunkt ist für sie das Jahr 2015, das Jahr der „Refugee policy crisis“5.

Sie unterscheidet ein europäisches Grenzregime vor und nach 2015. Dabei versteht sie Grenze als Effekt von border work (Rumford), als Effekt einer Vielzahl von Akteur:innen und Praktiken und Prozesse von doing und performing borders (van Houtum/ van Naerssen). Grenzen seien nicht länger statische Linien oder Abgrenzungen souveräner Staaten voneinander (Parker/Vaughan-Williams). Vielmehr habe die Verknüpfung der Grenze mit Migrationskontrolle und das neoliberale Credo der freien Zirkulation von Kapital, Waren, Wissen, Dienstleitungen und – zu einem verminderten Maße – von Arbeitskraft neue techno-politische Verräumlichungen hervorgebracht: einer „ubiquity of borders“ (Balibar), d.h. eine Aufblähung und Multiplikation der Grenze, welche ausgedehnte Grenzräume produziere, die mit Begriffen wie border zones, borderlands oder borderscapes umschrieben werden.

Bereits vor 2015 hätten sich vier das europäische Grenzregime leitende und kennzeichnende Paradigmen herausgebildet:

  1. Das „Paradigma der remote control und der Externalisierung“ führte zur geografischen Ausdehnung und zu einer starken Multiplikation und Diversifizierung der Akteur:innen.
  2. Das Paradigma der „>robusten< und doch aufgrund von Technologisierung, Digitalisierung und Biometrisierung >smarten< Außengrenze, die in unterschiedlichen Graden als Grenze für die verschiedenen Mobilitäten wahrnehmbar ist.
  3. Immobilisierung der Flucht_Migration innerhalb der EU durch den Ausbau des Migrationsregimes und EUropäischen Asylsystem: Dublin-Verordnungen, Eurodac-Bestimmungen usw.
  4. Humanitarisierung und Verrechtlichung des Grenzregimes, die „Geburt der humanitären Grenze“ (Walters).

„Nach dem Tod von mehr als 600 Migrant*innen bei einem Schiffsunglück vor Lampedusa 2013 wurde der humanitaristische Diskurs für eine kurze Zeit nahezu bestimmend“ doch die Politikansätze der letzten fünf Jahre haben in ihrem Versuch, die Bewegungen der Migration wieder unter ihre Kontrolle zu bringen, insbesondere die humanitäre Grenze geschliffen und Verrechtlichungsprozesse massiv zurückgedrängt“ (93).

Nach 2015 hat sich kein homogenes neues Regime herausgebildet hat. Vielmehr sind die Entwicklungen höchst uneinheitlich, teils auch widersprüchlich, hoch dynamisch und im Fluss befindlich und in zentralen Punkten repräsentieren sie in eine hohe Kontinuität zu den Paradigmen vor 2015. Auffällig sei eine „hybriden militärisch-humanitaristische Assemblage“ und eine „Dominanz einer Politik des Sterbenlassens“ an den Außengrenzen sowie ein Absenken von Schutzstandards und Rechtsansprüchen im Innern.

Hess nennt sieben weitere neue Tendenzen und Dynamiken:

  1. forcierte Renationalisierung und Remilitarisierung von Grenzräumen und Kontrollpraktiken;
  2. massiven Rematerialisierung der Grenze (von „smart“ border zur „hard“ border, d.h. Mauern und Zäune);
  3. Brutalisierung der Grenze;
  4. Ausbreitung des Lagersystems;
  5. rechte, nationalistische, rassistische und autoritäre Regierungsformen und ideologischen Konstellationen;
  6. starkes Aufblähen des humanitären Sektors und
  7. rechtlichen Fragmentierung des europäischen Raums.

„Insgesamt bedeuten diese Tendenzen einen erhöhten Abbau von Rechten und eine Rückkehr offener systemischer Gewalt, was auch zu einer erheblichen rechtlichen Prekarisierung und einer erhöhten Zirkulation der Migration beiträgt“ (100).

Dass in diesen Prozessen die widerständigen Praktiken der Bewegung der Migration ihre Geschichte fortschreiben, beleuchten die beiden letzten Beiträge des ersten Teils mit Blick auf die migrantischen Kämpfe um Mobilität entlang zweier innereuropäischer Routen:

Mit der analytischen Perspektive der „non-movements“ (Bayat) blickt Matthias Schmidt-Sembdner auf migrantische Formen des Widerstands und Praktiken einer »Politik der Präsenz« entlang der sogenannten Brennerroute zwischen Italien, Österreich und Deutschland. Ab 2015, mit Einführung nationaler Grenzkontrollen, veränderte sich die Situation für die Migrierenden am Brenner. Durch personelle Aufstockung weiteten sich die Kontrollen an den Grenzen, im Grenzland und an den Bahnhöfen Bozen und Verona massiv aus. Vermehrt wurde von illegalen pushbacks berichtet.

Schmidt-Sembdner stellt diesen Entwicklungen „Zonen relativer Freiheit“ (Bayat) als Auswege gegenüber: „The genius of subaltern subjects – nonmovements – lies precisely in discovering or generating such escapes (Bayat 2010: 25f)“6. Voraussetzung ist die Generierung und Weitergabe von Wissen und Informationen innerhalb (loser) migrantischer Netzwerke und die Existenz von »counter-apodemics7« der Bewegung der Migration, als Herausforderung und Vermeidung von Migrationskontrollen und dem Überleben auf gefährlichen Wegen (113).

Marijana Hameršak berichtet abschließend über „Pushback-Meldungen“ von Unterstützungsnetzwerken entlang der sogenannten Balkanroute im Angesicht der massiven Brutalisierung und der Normalisierung von Pushback-Praktiken nach der Schließung des formalisierten Korridors. Sie gibt interessante Einblicke in die Zusammensetzung und Arbeit der Monitoring-Gruppen.

Neben den Meldungen bieten diese auch unabhängige Informationsangebote für „people on the move“ oder versuchen durch persönliche, telefonische oder schriftliche Vermittlung Pushbacks zu verhindern . Gleichzeitig wird meist eine grundlegende Unterstützung wie das Verteilen von Essen und Kleidung, das Bereitstellen von Duschmöglichkeiten oder medizinische Notfallhilfe geleiste.

„Was die Geschichten und Fälle anbetrifft, scheint es erwähnenswert, dass die Pushback-Berichterstattung, wie eine der hier besprochenen Gruppen es ausgedrückt hat, ihre Aufgabe darin sieht, oft vergessene Geschichten an die Öffentlichkeit zu bringen und einen sofortigen Stopp der kritisierten Praktiken zu fordern. Darstellungen der Mitglieder einer anderen Gruppe zufolge baut die Veröffentlichung von individuellen Pushback-Zeugnissen auf der Idee auf, nicht für die Opfer zu sprechen, sondern ihren Stimmen und Geschichten zu einer breitestmöglichen Öffentlichkeit zu verhelfen und Beweismaterial fürs Einklagen der Einhaltung der internationalen Rechtsnormen und eines sicheren Zufluchtsorts für alle Geflüchteten zu sammeln“ (134).

Auffallend ist, was Hameršak nicht thematisiert: In wieweit gelingt es, durch die Pushback-Berichterstattung die Praxis der Pushbacks effektiv zu behindern oder gar zu verhindern?

Der zweite Teil des Bandes, »Territoriale und rechtliche Fragmentierung: Neue Regierungstechnologien der Migrationskontrolle«, beschreibt die unterschiedlichen Veränderung in der „Governance of Migration“:

Matthias Lehnert, Marei Pelzer und Maximilian Pichl beschreiben die „Rechtskämpfen um das europäische Flüchtlingsrecht nach dem Sommer 2015“.

Massive Asylrechtsverschärfungen und die weitreichende Auslagerung der Migrationskontrolle – häufig auf der Basis informeller Deals – an Drittstaaten, faschistische Milizen wie z.B. in Libyen sowie EU-Agenturen kennzeichnen diesen Prozess.

Dieser Prozess ist nicht einheitlich, wie sie an Hand der Praktiken des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und des Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) belegen8.

Vor dem EGMR werden Rechtskämpfe als Reaktion auf politischen Druck zunehmend gegen die Migrant:innen entschieden. Verfahrensrechte von Geflüchteten werden systematisch ausgehölt. Das geht so weit, dass der EGMR verbotene Kollektivausweisungen erlaubte, falls die Betroffenen in großen Gruppen, angeblich gewaltsam einreisten und nicht die vermeintlichen legalen Einreisewege (die es gar nicht gibt! Sic!) nutzen (152).

Dagegen konstatieren Lehnert u.a. eine tendenzielle Stärkung subjektiver Rechte von Geflüchteten vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), sofern diese sich bereits auf europäischem Territorium befinden. Das hat drei Folgen:

  • In Bezug auf die immer restriktiver werdenden rechtlichen Regelungen in den Mitgliedsländern und der EU ist es eine graduelle rechtliche Stärkung für jene, die sich bereits auf europäischem Territorium befinden.
  • Im Umkehrschluss eine völlige Entrechtung (von der fehlenden Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen bis zum Ertrinken lassen oder aktiven Töten) jener, die sich nicht auf europäischem Territorium befinden. Für diese fühlt sich der EuGH „nicht zuständig“.
  • Eine permanente formelle und informelle Verschiebung der Grenze. So erreichen Geflüchtete europäisches Territorium ohne eingereist zu sein, wie z.B. am Grenzkorridor an der polnisch-belarussischen Grenze oder in den griechischen Küstengewässern9.

„Rechtskämpfe vor europäischen Gerichten sind nur dann wirkungsmächtig wenn sie in Konstrukten des europäischen Migrationsregimes als solche vorgesehen sind. Ein wesentlicher Teil des Post-2015-Grenzregimes besteht jedoch darin, informalisierte Mechanismen zu etablieren, die es tatsächlich wie rechtlich verunmöglichen, Rechtsverletzungen vor Gericht geltend zu machen“ Die Autor:innen verweisen hier auf die Praxis des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) in Griechenland, die Grenzschutzagentur Frontex oder den EU-Türkei-Deal, die alle weitgehend ohne gerichtliche Kontrolle funktionieren.

Viele Rechtskämpfe sind folglich davon gekennzeichnet, dass es nicht mehr vorrangig um rechtliche Details geht, sondern ganz grundsätzlich um die Geltung von Recht und rechtsstaatlichen Garantien als solche. Um das Recht, Rechte zu haben, wie Hannah Arendt es ausdrückte. Das ist keine Lappalie, sondern eine Aufweichung des Rechtsstaatsgebot, wie wir es auch bei internationalen Handelsabkommen mit ihren Schiedsgerichten kennen, eine neue Form internationaler Governance10.

Abschließend fordern die Autor:innen auf, die Umkämpftheit des Rechts zu nutzen um gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu zu verändern, „aber ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel in der derzeitig auf Abschottung abzielenden EU-Migrationspolitik ist nur über eine Veränderung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse zu haben“ (162).

Die weitreichende Bedeutung insbesondere der supranationalen Rechtsprechung (oder auch deren Fehlen) adressierend, legt der Beitrag nach Einschätzung der Herausgeber:innen einen wichtigen Grundstein für die weitere thematische, theoretische sowie räumliche Auffächerung des zweiten Teils.

Im folgenden beschreiben Valeria Hänsel und Peter Teunissen (auf englisch11) das griechische Abschieberegime “unter dem EU-Türkei-Deal als „architecture of emnity“.

Sie untersuchen die „Migrations-Infrastrukturen“ mittels einer ethnografische Grenzregime-Analyse („ethnographic border-regime analysis“) und skizzieren die Funktionsweisen der Hotspot-Lager, Gefängnisse und Fahrzeuge zur Unterstützung des Abschieberegimes. Abschließend zeigen sie, wie der aus Pakistan stammende Migrant Bashir, der seit seinem 16. Lebensjahr legal in Italien lebte, aber bei einem Heimaturlaub versäumt hatte, seine Italienische Aufenthalts-Papiere zu verlängern, durch die „Infrastrukturen“ der Abschiebung navigierte.

Damit wollen sie zeigen, dass „die Migrationskontrolle nicht als kohärentes Abschiebesystem funktioniert, wie es das EU-Türkei-Abkommen vorsieht, sondern über eine Strategie von Zirkulation und differenzierten Mobilitäten“ (164).

So schlussfolgern sie, dieses Abschieberegime funktioniere nicht linear, sondern durch verschiedene Formen der (Im)Mobilisierung und wird immer wieder von Widerstandspraktiken der Geflüchteten herausgefordert: Das Beispiel von Bashir lasse keinen Zweifel daran, dass das Abschieberegime die Menschen in Bewegung halte (anstatt sie schnell abzuschieben) und halte sie jahrelang in einem Wechsel von Mobilität und Immobilität gefangen. Doch die betroffenen Menschen werden nicht nur zum Teil über Jahre zwischen Inseln, Lagern und Gefängnissen hin- und her-bewegt sondern fordern das Abschieberegime auch gleichzeitig durch subversive Handlungen und Aneignungen der Infrastrukturen heraus.

Dass dabei nicht nur „Inhaftierbarkeit und Abschiebbarkeit“ („detainability and deportability“) erzeugt werden, sondern auch Ausbeutbarkeit („exploitability“), wird zwar benannt und auch am Rande beschrieben. Denn Bashir ist immer wieder gezwungen, prekär zu arbeiten. Ob die Produktion von Ausbeutbarkeit aber nicht auch eine Funktion des Ganzen ist, diese Frage stellen sie nicht.

Bernd Kasparek und Lena Karamanidou beschreiben die Rolle der umstrittenen EUropäischen Grenzschutzagentur Frontex. Insbesondere häufen sich seit 2015 Vorwürfe der Komplizenschaft bei illegalen Pushbacks. Sie analysieren die immer zentralere Rolle von Frontex für den »Schutz« der EUropäischen Grenzen zwischen beständig wachsenden finanziellen Mitteln und einem strukturellen Mangel an Rechenschaft.

Sie beginnen mit einer breiten Palette an Vorwürfen, die von verschiedenen Seiten gegen die Agentur erhoben werden: Misswirtschaft, Korruption, Intransparenz, autoritärer Führungsstil, Geringschätzung von Grundrechten usw. Die schwerwiegendsten Vorwürfe beziehen sich auf die Beteiligung an illegalen Pushbacks.

Im weiteren diskutieren sie die spezifische Institutionalisierung von Frontex als europäische Agentur und erläutern, welche Charakteristika sich aus dieser speziellen Form ergeben: „Europäische Agenturen sind bewusst von politischer Einflussnahme isoliert, die Forschung spricht hier von der Autonomie der Agenturen. Diese soll es ihnen ermöglichen, die beste technologische und daher eine vermeintlich apolitische Lösung für eine europäische Herausforderung zu finden. (…) Die Isolierung der Agenturen von demokratischer Kontrolle [wird] als positiv und wünschenswert hervorgehoben“ (189f.).

Kasparek/ Karamanidou beschreiben die Defizite, die sich im Zusammenspiel von europäischen Agenturen und dem Feld der europäisierten Justiz- und Innenpolitik ergeben, wobei sie hervorheben, dass „die Möglichkeiten, die Aktivitäten der Agentur vor Gericht prüfen zu lassen, stark eingeschränkt“ (192) wurden.

Mit anderen Worten: eine parlamentarische und juristische Kontrolle ist nicht explizit gewollt!

Abschließend widmen sie sich den beiden einschneidenden Mandatsreformen der Agentur nach dem Sommer der Migration:

  • 2016 gab es eine erste Mandatsreform. Damit änderte sich der Name von „Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Europäischen Union“ zu „Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache“. Mit der neuen Verordnung übernahm diese nun, stellvertretend für die Europäische Union, die Verantwortung für den Schutz der europäischen Außengrenze, und „die bestehenden, nationalen Grenzschutzapparate wurden in ein Netzwerk subsumiert, welches größere europäische Kohärenz versprach, aber nicht mit Verlusten nationaler Souveränität einherging. Vielmehr wurde nun ein rechtlich bindendes Konzept, bestehend aus 14 Punkten, verabschiedet, welches das System des European Integrated Border Management (EIBM) ausmachte. Die Aufgabe zu überwachen, dass alle Mitgliedstaaten dieses Konzept nun auch einhielten und umsetzten, wurde der nun umbenannten Agentur… zugewiesen“ (193). Denn die Agentur sollte jährlich überprüfen, ob die jeweiligen nationalen Grenzschutzsysteme im Einklang mit den Prinzipien des EIBM standen
  • Nur drei Jahre später, im Dezember 2019, trat dann die aktuell gültige Verordnung in Kraft, die zu einem beispiellosen Ausbau der Agentur führte. Zentraler Punkt ist eine exorbitante Steigerung des Budgets bis 2027 und damit verbundenen der Aufbau einer „ständigen Reserve“: mit der „ständigen Reserve der Agentur wird die Europäische Union nun zum ersten Mal über eine uniformierte und bewaffnete Polizeieinheit verfügen, die bis zum Jahr 2027 aus 10.000 Beamt*innen bestehen soll“ (195).

Etwas überraschend sehen Kasparek/ Karamanidou „jedoch auch einen immanenten Weg, um die Agentur entlang der ihr eingeschriebenen Logik der Expertise zu reformieren“ (198). Ihre Schilderungen legen dagegen eher den Schluss nahe, dass Frontex gezielt konzipiert wurde, um – jenseits parlamentarischer und juristischer Kontrolle – Menschenrechtsverletzungen zu begehen bzw. zu kaschieren.

Christina Rogers beschreibt das Paradigma EU-europäischer Regierungstechnologien der „smart border“ durch den beständigen Ausbau digitaler Grenztechnologien seit 2015.

Der Ausbau und die Modernisierung der „Verdatung des Grenzgeschehens“ zielt zunächst auf eine Vernetzung verschiedener bestehenden und neu geschaffene Datensystemen (Interoperabilität und Konnektivität) .

Abschließend beschreibt sie die Rolle von Frontex einerseits als Dienstleister für Risikoanalysen und Forschungseinrichtung für experimentelle Formen hochtechnischer Überwachung, anderseits als Akteur einer „Politik des Sterbenlassens“ (211).

Rogers geht es dabei um eine Theoretisierung grundsätzlicherer Fragen: „Welche Bedeutungszuschreibungen sind an den hiesigen Datensammeleifer geknüpft? Inwiefern lebt die Fiktion einer Kontrollier- und Steuerbarkeit der Migration mit digitalen Grenzen seit 2015 fort und welche Wissenstechniken schließen sich hieran an?“ (202)

Denn Hoffnung bleibt: So schreiten einerseits die Normalisierung erkennungsdienstlicher Behandlung, die Codierung der Migration als Sicherheitsproblem und die Möglichkeiten, Betroffene mithilfe mehrerer Datenbanksysteme zu entrechten, weiter voran und führen „zu einer einer radikalen Entwertung des migrantischen Lebens“ (215).

Doch andererseits beschreibt sie den Zielvorgaben von Interoperabilität und Konnektivität zum Trotz ein stark fragmentiertes Durcheinander von Daten- und Überwachungssystemen im Grenzregime, dass wenig mehr als eine „Fiktion einer Kontrollierbarkeit der Migration mit digitalen Grenzen“ (206) aufrecht erhalten kann. Nicht zuletzt auch, weil aus solidarischen Praktiken und migrantischen Kämpfen entstandene Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre (z.B. Solidarity Cities votieren für Datensparsamkeit, SAR-NGOs und das Alarm Phone nutzen Infrastrukturen der Echtzeit-Überwachung für viapolitische Kämpfe und diverse Wissensprojekte nutzen digitale Technologien zur transnationalen Vernetzung) für „eine gelebte Praxis der Veränderung“ (215) stehen.

Die beiden folgenden Artikel beschäftigen sich mit den Externalisierungspolitk der EU, weil für die Herausgeber:innen „EUropa von den Rändern her zu verstehen – auch als ein postkoloniales Konstrukt –,… ein wesentlicher Bestandteil kritischer Migrations- und Grenzregimeforschung darstellen“ (27) muss, wie sie im Vorwort betonen.

Am Beispiel der Verlagerung EUropäischer Asylverfahren in den Niger beschreibt Laura Lambert die Externalisierungspolitk als ein Kern des Post-2015 Flüchtlingsregime: während individuelles Asyl im Niger bis vor kurzem politisch und zahlenmäßig unbedeutend war, ist das Asylverfahren durch den finanziellen und politischen Einfluss Europas ein Zentrum des Externalisierungsgeschehens geworden.

Empirische Grundlage der Analyse sind 13 Monate ethnografischer Feldforschung im Niger von 2018 bis 2019 mit verschiedenen Akteur*innen des Flucht- und Grenzregimes.

Für eine dekoloniale und historisierende Analyse von Externalisierungspolitiken schlägt sie das Konzept des „travelling models“ vor. Das Konzept des „travelling model“ „ermöglicht, Externalisierungspolitiken nicht als Einbahnstraße, sondern als eine Übersetzung (»translation«) zu begreifen, an der Ursprungs- und Aufnahmekontext gleichermaßen beteiligt sind und sich meist beide wie auch das Modell selbst dabei verändern“ (221). Konkret bedeutet das, dass das Asylverfahren im Niger „als einer standardisierten Blaupause folgend“ betrachten wird, „welche durch die Aneignungen und Widersprüche lokaler Bürokrat:innen und ihrer strukturellen Handlungskontexte maßgeblich verändert wird“ (222). Der Ansatz soll dafür „sensibilisieren, die Interessen, Perspektiven und Strategien von lokalen Akteur*innen, die institutionellen Pfadabhängigkeiten und praktischen Normen in den Behörden und die verbundenen Brüche und Verschiebungen in der Implementierung der Externalisierungspolitiken aufzuzeigen“ (234).

Nach einer theoretischen Einführung des travelling model analysiert sie die Geschichte der Schaffung des Asylsystems im Niger sowie die Umsetzungslücken des capacity-building. Diese Lücken beruhen auf den Strategien lokaler Akteur*innen, die sehr unterschiedlich vom Ausbau des Asylsystems profitieren. Während die höheren Ränge der Administration erhebliche zusätzliche Gelder in die eigenen Taschen kanalisieren konnten, trugen die geringe Entlohnung, Langeweile und die Unsicherheit über die jährlichen Vertragsverlängerungen mit dazu bei, „dass viele befristet Beschäftigte ihre Zukunft nicht in der Behörde sahen. Sie nutzten die Arbeitszeit dafür, sich auf neue Stellen zu bewerben und Informationen über die Gründung von NGOs auszutauschen“ (229). Insgesamt „schränkte die lokale Aneignung des Modells die Effizienz und Nachhaltigkeit des durch den UNHCR beabsichtigten Personalaufbaus und capacity-building ein“ (230).

Schließlich zeigt sie am Beispiel des Emergency Transit Mechanism (ETM), einem Evakuierungsprogramm von in Libyen an der Flucht nach Europa gehinderten Menschen, wie das Modell vor Ort verändert wird. Der Widerspruch nigrischer Bürokrat*innen beschränkte z.B. die Interessen des UNHCR, mehr Personen gleichzeitig aus Libyen zu evakuieren.

Um die Aneignungen von und Widerstände gegenüber europäischen Grenzpolitiken in der Forschung wahrzunehmen, schlägt Lambert im Sinne des „travelling models“ abschließend vor:

  1. die Pfadabhängigkeiten der Institutionen des Aufnahmekontexts einzubeziehen;
  2. die Strategien und Praktiken verschiedener lokaler Akteur*innen einzubeziehen und
  3. die Untersuchung der Aushandlungen zwischen den Mediator*innen des Modells und den Akteur*innen des Aufnahme- und Herkunftskontexts auf der Regierungsebene und der alltäglichen Arbeitsebene (234f.).

Denn Techniken des Regierens können nicht einfach 1:1 in ein anderes Land exportiert werden, sondern werden an anderen Orten verändert, umgewidmet und recodiert.

Ramona Lenz und Nina Violetta Schwarz beschreiben die Externalisierung von Regierungstechnologien der Migration am Beispiel der versuchten Implementierung von Integrationskonzepten in Marokko.

Im Rekurs auf die Ergebnisse des Rechercheprojekts „Rückkehr-Watch“ von medico international zeigen sie, wie das Zusammenspiel aus Rückkehr und Reintegration im Bereich der sogenannten „Entwicklungszusammenarbeit12“ (EZ) und Migrationspolitik sukzessive dominierend wird. Sie beschreiben wie die Förderung von Rückkehr und Reintegration sich in der EU und Deutschland in den letzten Jahren durchgesetzt hat und dabei vor allem der Verhinderung von Ankommen und Integration dient: „Zwischen der Rhetorik der Rückkehrförderungsprogramme und den Erfahrungen, die Geflüchtete und Migrant*innen damit machen, liegen häufig Welten“ (244).

Am Beispiel Marokkos zeigen sie, wie die Idee der Integration im Dienste des Grenzschutzes exportiert und delegiert wird. Doch interessanterweise sind die Erwartungen an eine Migrationsberatung in Marokko („deutsch-marokkanische Kooperation“) auf marokkanischer und deutscher Seite grundlegend verschieden: Die Marokkaner*innen erwarten eine Beratung hinsichtlich legaler Migrationswege vor einer etwaigen Ausreise. Für Deutschland steht die Initiative dagegen vor allem für die Förderung von „freiwillig“ Zurückgekehrten und ihrer (Re-)Integration (248).

Maßnahmen der Rückkehr und Reintegration werden nicht nur zwischen Europa und den Herkunftsländern gefördert, sondern auch zwischen „Partnerländern der EZ“ im globalen Süden

Zitate aus Interviews und Gesprächen machen deutlich, dass die Betroffenen einer „freiwilligen Rückkehr“ meist nicht aus freien Stücken, sondern eher aus Not und Alternativlosigkeit zustimmen. Die strukturelle Ausgrenzung und Entrechtung sowie die prekäre Unterbringung von Geflüchteten dienen als Triebfedern der Durchsetzung von Rückkehrprogrammen.

Amoya Diallo beschreibt detailliert ihre Erlebnisse vom Aufbruch nach Libyen über die Zeit in libyscher Haft mit ihren Kindern bis zur Rückkehr nach Mali. Als sie die Chance bekam, verließ sie Libyen so schnell wie möglich, um ihre Kinder und sich selbst zu retten. „Das war nicht freiwillig – ich hatte keine Wahl. In diesem Gefängnis bleiben und meine und die Gesundheit und das ganze Leben meiner Kinder gefährden? Ich habe vorgezogen, das Leben meiner Kinder zu retten und nach Mali zurückzukehren“ (252).

Ziel ist offenbar, „möglichst viele, die wir für unerwünscht halten, unerträglichen Lebensbedingungen auszusetzen, sie tagtäglich einzukreisen, ihnen immer wieder zahllose rassistische Schläge und Verletzungen zuzufügen, ihnen alle erworbenen Rechte zu nehmen, den Bienenstock einzunebeln und sie so lange zu entehren, bis sie keine andere Wahl mehr haben, als sich selbst zu deportieren“, wie sie Achille Mbembe zitieren (253). Der Ausdruck des aktuellen „Zeitalter des Nanorassismus“ sei eine Politik der Zermürbung und des indirekten Zwangs.

Ob diese Art der „Förderung von Rückkehr und (Re-)Integration“ als Form der „sanften Führung“ (253) bezeichnen werden kann, erscheint mir allerdings zweifelhaft.

Die Kontinuitäten und Brüche der Politik der Unterbringung von Geflüchteten in Deutschland und Europa analysiert Simon Sperling am Beispiel der „AnkER-Zentren“. Er beschreibt die Lager als „internalisierten Grenzraum“ und Raum der Abschreckung. Die AnkER-Zentren schreiben sich damit in die allgemeine Europäische Tendenz zur Campization ein, die mit einem zunehmenden Grad an Zentralisierung, Isolation und prekärem Lebensstandards einhergeht.

Auf Grundlage seiner eigenen empirischen Forschungen in zwei bayerischen AnkER-Zentren untersucht er die aktuellen Entwicklungstendenzen bei der Ausgestaltung der deutsch-europäischen Lagerpolitiken und wie sich die Etablierung der Anker-Zentren dazu verhält. Dabei blickt der Autor auch auf die widerständigen Praktiken von Bewohner:innen der AnkER-Zentren, welche sich der Produktion von Rückkehrbereitschaft und Abschiebbarkeit entgegenstellen.

Um die Entstehung der AnkER-Zentren historisch zu situieren, zeichnet er drei Entwicklungstendenzen deutsch-europäischer Lagerpolitiken nach:

  1. Allgemeine Abschreckungsstrategien im Rahmen eher »gewöhnlicher« Unterbringungsformen und ihre Verschärfung ab 2015 durch „Campization“, d.h. härtere Lebensbedingungen als „räumlich geronnene Form von Abschreckungsstrategien“ (259).
  2. Forcierte Ausreisen von Menschen mit „niedrigen Anerkennungschancen“.
  3. „Lagerformen, bei denen Fragen ökonomischer Verwertung tonangebend sind und die darauf abzielen, Migration entlang logistischer Rationalitäten zu regieren“ (258).

Vor diesem Hintergrund untersucht er die praktische Ausgestaltung der untersuchten AnkER-Zentren und ihre stets umkämpften Effekte an Hand der Themen:

  • Rückführbarkeit,
  • Integrationsmaßahmen sowie
  • Auszugs- und Verlegungsentscheidungen.

Dabei untersucht er, welche Rolle die drei oben genannten Tendenzen (1.-3.) jeweils spielen. „Diese Unterscheidung von Tendenzen einerseits und Themenkomplexen andererseits ermöglicht eine differenzierte Darstellung, die hilft, AnkER-Zentren im Wandel der Einrichtungen historisch und konzeptionell zu verorten“ (258).

Dabei stößt er auf erhebliche Widersprüchlichkeiten:

  • Eine (statistische) Beschleunigung der Asylverfahren in den AnkER-Zentren scheiterte.
  • Die Großlager erhöhen einerseits die Häufigkeit von Gewalteskalationen, erleichtern andererseits aber auch kollektive Widerstandsformen z.B. gegen das Vordringen von Polizeikräfte und bieten Möglichkeiten zum Versteck.
  • Aufgrund der Ausgabenbasis kann Sperling auch keine übergreifende ökonomisch-logistische Verteilungsrationalität erkennen. Für die Organisationsprozesse innerhalb der Anker-Zentren haben „Strategien von Humankapitalbildung“ wenig Bedeutung. Sie setzten eher erst nach dem Auszug an. „Plausibler ist es, von einem Ineinandergreifen sehr unterschiedlicher (z.B. ökonomischer, ordnungspolitischer, humanitaristischer) Logiken auszugehen, die teilweise auf Kriterien von Aufenthaltsprognostik zurückgreifen“ (270).
  • Verlegungsentscheidungen werden für die Bewohner:innen völlig willkürlich und undurchsichtig getroffen. Insgesamt leben Asylsuchende mit „guter Bleibeperspektive“ tendenziell unter besseren Bedingungen und weniger lange in den Lagern. Und sie haben schnelleren Zugang zu Integrations- bzw. Arbeitsmarktprogrammen. Dies sei aber „nicht Ergebnis einer übergreifenden ökonomisch-logistischen Rationalität, sondern Resultat verschiedener probabilistischer [Wahrscheinlichkeiten berücksichtigender] Planungsanstrengungen“ (273).

Diese Pläne werden durch die eigensinnigen Praktiken der Bewohner:innen immer wieder herausgefordert, die sich den Lager-Raum aneignen, um Abschiebungen zu entgehen, um geplante Ausschlüsse zu durchbrechen und auch um aus asymmetrischen Informationspolitiken Motivation zu schöpfen. „Das Lager ist insofern nicht nur Ort des Ausschlusses, sondern auch von Widerständigkeiten“ (273).

Der dritte Teil des Bandes, »Der städtische Raum als regionales Laboratorium des Widerstands« beschreibt unterschiedliche urbane Praktiken der Solidarität.

Er beginnt mit dem Beitrag von Stefanie Kron, die der Frage nachgeht, ob solidarische Städte eine Alternative zur gescheiterten EU-Asylpolitik darstellen können. „Die Antwort lautet: im Prinzip ja“ (281)

Sie stellt die bestehenden Netzwerke Solidarischer Städte in Europa vor und die Potenziale kommunaler Räume für eine humane und inklusive Migrationspolitik als Gegenentwurf zu den Abschottungspolitiken der EU.

Trotz Zunahme von Repression und Ausschluss von Migrant*innen durch die Covid-19-Pandemie, setzt sie auf das Konzept der „Urban Citizenship“ auf praktischer Ebene. Als Beispiel diskutiert sie die City-ID, die in New York entwickelt wurde und auch in einigen europäischen Städten zum Einsatz kommt, als einen ersten Schritt zur „Urban Citizenship“.

In Deutschland könnte die z.B. Einführung der City ID die Auslösung der so genannten Übermittlungspflicht von öffentlichen Landesstellen an die Ausländerbehörde bzw. an die Polizei zumindest teilweise vermeiden.

Sie kommt zu dem Schluss, dass die Bewegungen solidarischer Städte und Kommunen in Europa „eine wachsende politische Kluft zwischen Stadt und Staat sowie das Scheitern und den Rassismus der nationalen und EU-europäischen Migrations- und Geflüchtetenpolitik“ (291) zeigen. Seit Beginn der Covid-19-Pandemie seien diese migrationspolitischen Widersprüche noch deutlicher und brutaler hervorgetreten.

Dabei sieht sie die Herausforderung, dass das zivilgesellschaftliche Konzept der „Urban Citizenship“ durch Verwaltungshandeln erleichtert oder untergraben werden kann.

Daran anschließend widmet sich der Beitrag von Karl Heyer der italienischen Stadt Palermo, die als urbane Stätte der Solidarität nicht zu Unrecht eine hohe Symbolkraft erreicht hat: „Wer in Palermo ist, ist Palermitaner“ zitiert er den Bürgermeister Leoluca Orlando.

Heyer untersucht die Rekonfiguration und zunehmende Fragmentierung des EUropäischen Grenzregimes nach 2015 am Beispiel Italiens mit seinen konkreten, lokalen Auswirkungen und die damit verbundenen (lokalen) Aushandlungsprozesse.

Dabei liegt sein Fokus auf zwei für den italienischen Kontext zentralen Maßnahmen des „Regierens von Migration“: dem Hotspot-Ansatz (2015) und dem sogenannten „Sicherheitsgesetz“ (2018), die vor allem von fehlender Rechtssicherheit geprägt sind.

Die hier beschriebenen Prozesse und Effekte zeigen, dass das Post-2015-Grenzregime wesentlich auf der Etablierung informalisierter Mechanismen basiert, die die Verhandlung von Rechtsverletzungen vor Gericht praktisch wie juristisch verunmöglichen (siehe auch den Beitrag von Lehnert, Pelzer und Pichl im zweiten Teil).

Heyer thematisiert auch die begrenzte Reichweite kommunaler und solidarischer Handlungsformen auf praktischer Ebene: „Anhand der untersuchten Fälle wird dabei deutlich, dass die Positionierung Palermos als >Stadt des Willkommens< vor allem auf symbolischer Ebene auch über die Stadtgrenzen hinaus durchaus wirkmächtig und relevant, mit Blick auf konkrete Verbesserungen der Situation für Migrant*innen vor Ort jedoch nur von begrenzter Reichweite ist“ (298). Allerdings führt die fehlende Rechtssicherheit zwangsläufig zur Ausweitung Ermessensspielräumen, die von wohlmeinenden Mitarbeiter:innen auch zu Gunsten der Migrant:innen interpretiert werden.

Es wird deutlich, dass die lokalen Aushandlungen einerseits mit einer räumlichen Fragmentierung der rechtlichen Landschaft einher gehen – in unterschiedlichen Städten finden unterschiedliche Auslegungen statt –, andererseits umfassen sie auch eine zeitliche Dimension: „in der gleichen Behörde, z.T. gegenüber dem*der gleichen Beamt*in, finden sich Migrant*innen und Unterstützer*innen an unterschiedlichen Tagen verschiedenen Auslegungen des gleichen Gesetzes gegenüber“ (307).

So zeigt sich am Beispiel Palermo „deutlich, dass, wie Andrea Frieda Schmelz anmerkt, >allein die menschenrechtliche Proklamation< die alltäglichen Realitäten mangelnder Teilhabe und unzureichender Versorgung mit grundlegenden Notwendigkeiten des Lebens nicht aufhebt. Vielmehr läuft eine Politik, die sich zuvorderst in Gesten und Proklamationen von »Gleichheit« ergeht, Gefahr, existierende Ungleichheiten zu perpetuieren, zur Aufrechterhaltung von Ausbeutungsverhältnissen (z.B. in Form illegalisierter Arbeit oder überteuerter Wohnverhältnisse) beizutragen.

Abschließend beleuchten Farina Asche und Manuel Liebig mit ihrem Beitrag das Ringen um „Hegemonie“ (Gramsci) von Wissensproduktionen in Wien. Die Stadt ist für sie ein „Laboratorium“ sozialer Prozesse, ein Feld, wo sich „sowohl gesellschaftliche Hegemonie als auch Räume, in denen Gegenhegemonie erprobt wird“ manifestieren (317).

Am Beispiel des Volkskundemuseums beschreiben sie die Veränderung der historischen Darstellung von Migration im musealen Kulturbetrieb angesichts des „langen Sommer der Migration“.

Anfang des Jahrhunderts gab es in Österreich einen zivilgesellschaftlichen Aufbruch gegen die schwarz-blaue Regierung, die ihren Ursprung bereits im Widerstand gegen die ordnungspolitische Orientierung der Einwanderungs- und Integrationspolitik der 1990er-Jahren hatte. 2015 inspirierte „die Kraft der Migration“ viele Kulturinstitutionen, Migrant:innen in Projekte einzubinden oder Projekte mit Fluchtbezug anzustoßen. Die Gefahr einer Entpolitisierung migrantischer Rassismuskritik war dabei immer im Schlepptau.

Dem Wiener Volkskundemuseum wurde dagegen eine kritische Haltung in Bezug auf neoliberale Vereinnahmungstendenzen attestiert. Nach 2015 wurde mit der Überarbeitung seiner „konservativ anmutenden“ Dauerausstellung begonnen. 2018 startete die Ausstellung „Die Küsten Österreichs“ unter der Regie von externen Kurator*innen, die sich zu dem Zeitpunkt alle im Asylverfahren befanden: „Als relevante Artefakte der österreichischen Volkskunde gelten neben Kleiderschränken aus Tiroler Bauernhäusern nun auch gepackte Reisetaschen, die bei der Mittelmeerüberfahrt zurückgelassen werden mussten. Die neuen Objekte legen Zeugnis dafür ab, wie Europa und Österreich zu Beginn des 21. Jahrhunderts funktionieren“ (326).

Über die Dauerausstellung „Die Küsten Österreichs“ hinaus gab es zahlreiche Aktivitäten im gesellschaftlichen Raum, wie z.B. die Zusammenarbeit mit sozialen Initiativen und Schulen mit hohem Migrationsanteil, Nachbarschaftsinitiativen wurden Räume zur Verfügung gestellt. „Im Team entwickelte das Projekt auch eine gewisse gesellschaftliche Verantwortung und Sensibilität, was sich auch im Engagement für die asylrechtliche Situation der Kurator*innen zeigte: >Wir sind dort alle hin in den Gerichtssaal und haben Bestätigungsbriefe geschrieben. […] Also wir waren da sehr involviert. […] Das war dann einfach Teil der Teamarbeit< (Interview Leitung, Volkskundemuseum, Januar 2021). Dennoch bildet das Museum in seiner Struktur bei Weitem noch nicht die angestrebte Diversität ab“ (327).

Asche und Liebig beschreiben, wie sich eine zunehmend antimigrantische staatliche Politik auf die migrantische Repräsentation im Kulturbereich ausgewirkt hat. Dabei gehen sie von einer zentrale Rolle des Kulturellen bei der Aufrechterhaltung bürgerlicher Herrschaft aus und beschreiben Kultur als Terrain gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Kämpfe. Unter Bezugnahme des Theorems der differenziellen Inklusion zeigen sie, dass einerseits Veränderungen sowohl auf der Ebene der Repräsentation als auch strukturell möglich sind andererseits aber auch, wie das „Eindringen“ der Migration in museale Institutionen mit der Gefahr ihrer neoliberalen Vereinnahmung und dem Neutralisieren migrantischer Kritik und Entpolitisierung einhergeht.

Etwas ratlos macht den Rezensenten, dass der Beitrag weder die autoritären Momente des „Hegemonie-Konzept“ des Stalinisten Gramsci reflektiert, noch die Unterscheidung zwischen entpolitisierender bürgerlicher (Schiller) und sozial-revolutionär organisierender proletarischer Kultur (Brecht). So verfehlen sie auch den Punkt, dass die „Integration der Anderen“ im Liberalismus grundsätzlich selektiv funktioniert mit dem Ziel der Entpolitisierung und der Neutralisierung von Kritik13 verbunden mit einem Aufstiegsversprechen an die „Schlausten und Fähigsten“ bzw. der „Brauchbarsten“.

So bedeutet für die meisten Migrant:innen „Teilhabe“ eher ein dauerhafter Aufenthalt, eine angemessene Wohnung, ein ordentliches Einkommen und die Verhütung rassistischer Gewalt als die Repräsentation im bürgerlichen Kulturbetrieb.

„Theoretische Perspektiven auf die Rekonfiguration des Grenzregimes seit 2015“ ist der vierte und letzte Teil des Buches. Hier finden sich, eher theoretische Beiträge, die aktuelle Debatten vor dem Hintergrund des „Post-2015-Grenzregimes“ diskutieren.

Der vierte Teil beginnt mit einem Aufsatz von Nicholas De Genova: Spatial Convulsions, Racial Concussions14: Die Grenzen und Begrenzungen des „Europäischen Problems“.

Ausgangspunkt für De Genova ist, dass „Europa“ zum Problem geworden ist und die Krise des Europäischen Grenzregimes zur „Alltäglichkeit“: Sein Interesse besteht darin, aufzuzeigen, wie die Inszenierungen menschlicher Mobilität als Störung eine selbstgefällige und eingefahrene Vorstellung von „Europa“ entlarvt und destabilisiert und seine Hegemonie erschüttert.

Die Konstruktion von Migration als etwas, das Europa bedroht, fremd und extern ist, sei untrennbar mit einer realen Krise verknüpft die er „racial crisis“ nennt. Ursache für diese „racial crisis“ sei die anhaltende Unfähigkeit EUropas, sich mit seinem kolonialen/rassistischen Erbe auseinanderzusetzen.

Das führe dazu, dass sich Grenzen tief in das alltägliche Leben Europas eingeschrieben haben. Die daraus erwachsenden Spaltungen und Konflikte stärken reaktionäre Nationalismen. Er charakterisiert diese rassistischen Anfälle als Gehirnerschütterungen („im Bewusstsein der Gefahren, welche die Verwendung einer medizinischen und damit somatischen Analogie mit sich bringt“ 339).

Europa habe mit dem Kolonialismus einen „Bumerang“ (Césaire) in die Welt geschleudert, der nun zurück komme: die globale post-kolonialen Konstellation treibt unaufhaltsam Geflüchtete und Migrant:innen nach Europa.

Die Realität der Migration („Europa als Migrant Metropolis“) verändert Europa: es destabilisiert die Nationalismen und schafft neue transnationale Räume, während das europäische Grenzregime Verfolgung und Gewalt vervielfacht:

„Der Kampf um menschliche Mobilität ist so zu einer der zentralen und bestimmenden Dynamiken geworden, die Europa zum space of convulsions machen; und diese convulsions werden immer wieder zum Schauplatz der verschiedenen Manifestationen von Europas racial concussions“ (347). Doch was oberflächlich betrachtet wie ein rein „ausschließendes“ Regime aussehen mag, schließt in Wirklichkeit ein: in Form von „rassifizierter Unterordnung und Verelendung“ (349).

Etwas ratlos bleibt der Rezensent mit der unkritischen Verwendung des Begriffs „Europa“ zurück. Wer oder was soll das genau sein? Wer gehört dazu und wer nicht? Und warum? De Genova sitzt in Houston, vielleicht sehen von dort aus alle „Europäer:innen“ europäisch aus. Was ist mit dem „Europa der Migrant:innen und Geflüchteten“? Gehören sie auch zu Europa? Haben sie auch den „Bumerang“ geworfen? Ich weiß es nicht!

Wesentlich gehaltvoller ist der Beitrag von Sabine Hess, Johanna Elle und Valeria Hänsel, der leider auch nur in englisch abgedruckt ist.

Sie zeigen die zentrale Dimension von Gender im EUropäischen Grenzregime auf, das kontinuierlich auf die Aneignung und Umkodierung von Geschlechterartikulationen für seine Governance-Ziele gebaut hat.

Einerseits betrachten sie „2015 als neuen Frühling für einen >gendersensiblen< Ansatz in der Migrations- und Flüchtlingspolitik wie auch in der Forschung“. Andererseits kritisieren sie, dass diese erhöhte Sichtbarkeit nicht zu der Verwendung von Gender, Sexualität und Queerness als analytische Kategorie geführt habe, sondern jene als „Blinde Flecken“ geblieben sind.

Anhand von Auseinandersetzungen um „Gewaltschutz“, „Menschenhandel“, „Schleusung“ und „Vulnerabilität“ zeigen sie, wie das Grenzregime humanitäre Topoi für seine Politik der Versicherheitlichung und Externalisierung integriert und umkodiert, während strukturelle sozioökonomische Aspekte von Gewalt hinter einem humanitären Diskurs verschwinden: „Frauen zu schützen bedeutet Grenzen zu schützen (362)“.

Dieser „Governance Feminism“ (Ticktin) führt auf der einen Seite zu drakonischen Strafen gegen jene, die als „Menschenschmuggler“ verurteilt werden, auf der anderen Seite zu einer großen Akzeptanz des Staates und nationaler, internationaler Institutionen durch Frauen- oder feministische Gruppen, obwohl erstere ja gerade für die Prekarisierung der Migrantinnen verantwortlich sind, die dem Menschenhandel vorgelagert ist.

Diese Allianz zwischen „Governance Feminismus“ und dem Grenzregime führt nicht nur zur Kriminalisierung von von Migrant:innen, die als „Menschenhändler:innen“ oder „-schmuggler:innen“ verurteilt werden, sondern schadet auch jene, die sie eigentlich schützen wollten:

  • „Opferschutz“ kann in einigen EUropäischen Ländern auch die Inhaftierung, Festnahme oder Abschiebung der von Menschenhandel betroffenen Frauen bedeuten.
  • Ungesehen davon sind staatlich organisierte Räume wie Geflüchtetenlager, insbesondere auch die griechischen Hotspots, alles andere als sichere Orte.
  • Asylbewerber:innen werden nicht länger als Subjekte mit Rechten behandelt, sondern als Objekte humanitärer Hilfe.
  • „Nicht sichtbare“ Gründe für die Schutzbedürftigkeit wie PTBS (Postraumatische Belastungsstörungen) werden von den Behörden oft ignoriert, während Transgender und Queere Menschen stark diskriminiert werden.
  • „Schutzbedürftigkeit ist eine Kategorie, die ständig von den Behörden neu definiert wird. Wer gestern noch als schutzbedürftig definiert wurde, kann sich heute schutzlos in den griechischen Hotspots wiederfinden.
  • Traditionelle Genderarrangements werden gestärkt: „Doing Gender while doing borders!“
  • „Opfer“ sind keine gleichberechtigten Teilnehmer:innen des öffentlichen Diskurses: „Da >die Opfer< … in ihrer Passivität am reinsten sind, verlieren sie nur allzu schnell ihre eigentlichen Opferqualitäten, wenn sie sich tatsächlich äußern.“
    Ihre Expertise wird nicht berücksichtigt: „Es ist wichtig, dass sich alle Frauen auf der Welt sicher fühlen, egal wo sie wohin sie gehen. Aber ich möchte hinzufügen, dass ich und meine Tochter uns nicht sicher fühlen können, wenn wir nicht wissen, ob wir morgen zurückkehren müssen. Ich möchte betonen, dass dies wichtig für unsere Diskussion ist. Wir können uns nur sicher fühlen, wenn wir wissen dass wir bleiben dürfen“ (Zitat einer ungenannten geflüchteten Frau; 375)

Der „Governance Feminismus“ ignoriert, dass der „>Migrations-Gewalt< Nexus“ (Freedman) Resultat restriktiver, ausgelagerter Grenzpolitiken ist und „besondere Herausforderungen, Schwierigkeiten und Leiden für geflüchtete Frauen, Kinder, LGBTIQ+ und andere diskriminierte Gruppen“ (370) verursacht. Dagegen fordern Hess, Elle und Hänsel als ersten Schritt, „migrierte Frauen und LGBTIQ+-Personen als Akteure anzuerkennen, deren Stimmen und Erfahrungen in der gesamten Debatte über gender- und sexualitätssensible Politiken und Praktiken im Bereich der Migration entscheidend sind“ (378).

Fabian Georgi versucht die Grundlagen einer materialistischen Migrations- und Grenzregimeanalyse am Beispiel der EU-Migrationspolitik seit 2015 zu skizzieren.

Seine eigene Position ist – mit Marx/ Engels, Horkheimer, Gramsci, Poulantzas und Hirsch im Gepäck – ungefähr so zu umreißen:

  • Die Dynamik menschlicher Gesellschaften werden insbesondere durch jene antagonistischen Praktiken sozialer Gruppen angetrieben, die durch die strukturelle Widersprüchlichkeit historischer Re/Produktionsweisen und durch vielfältige gesellschaftliche Konflikte hervorgebracht werden.
  • Georgi versteht diese Praktiken (Kämpfe) als historisch offene, transnationale soziale Auseinandersetzungen und (Klassen-)Konflikte zwischen einer Vielzahl sozialer Kräfte, von denen er allerdings ein sehr starres Verständnis hat (Bewegungen der Migration, links-solidarische Akteur*innen, verschiedene Kapitalfraktionen, am eigenen Erfolg und Fortbestand interessierte Staatsapparate und nationalchauvinistische Gruppen)15.
  • Auch Migrations- und Grenzregime tragen dazu bei, dass sich kapitalistische Gesellschaften trotz und durch all ihre Widersprüche hindurch reproduzieren, d.h. überhaupt dauerhaft existieren können (388).
  • Er unterstellt, dass Regime-Elemente von bestimmten sozialen Kräften angestrebt, modifiziert und durchgesetzt werden, „weil diese Kräfte hoffen, auf diese Weise zu einer bestimmten, für sie selbst vorteilhaften Regulation spezifischer Widerspruchskonstellationen und der daraus entstehenden Probleme, Konflikte und Krisen beizutragen (389)“. Ob sie dabei erfolgreich sind oder scheitern sei nicht unwichtig.
  • Als letzter Punkt ist die Wichtigkeit von Strukturen zu nennen. Zu den aktuellen zentralen Strukturprinzipien der „gegenwärtigen Form kapitalistischer Vergesellschaftung“ (391) zählt er Privateigentum an Produktionsmitteln und Privatproduktion (keine gemeinnützigen, öffentlich-rechtlichen oder Staatsbetriebe?!), Lohnarbeit, Warentausch und Konkurrenz, Feminisierung und Privatisierung von Reproduktionsarbeit, die schrankenlose Ausbeutung der „Gratisprodukte der Natur“ und der strukturelle Rassismus imperialer Produktions- und Lebensweisen.

Diesem aufwendigen, recht konventionellem theoretischen Gerüst folgen Banalitäten über die Kräfteverhältnisse im EUropäischen Grenzregime, wie z.B.: „Ohne die v.a. auf einer physisch-operativen Ebene der Kräfteverhältnisse wirksame relationale Autonomie der Migrationsbewegungen wäre es gar nicht erst zum Kampfzyklus des Sommers gekommen“ Ohne Migrant:innen kein Sommer der Migration, wer hätte das gedacht?

Laut Georgi erhielten die Neuankommenden „Unterstützung von linksradikalen und linksliberalen Kräften innerhalb und außerhalb der EU“ (395). Dass aber die sogenannte „Willkommenskultur“ 2015 vor allem auch migrantisch geprägt war, von denen die schon angekommen waren, unterschlägt er völlig.

Ebenso verschweigt er, dass die „bürgerlich-linksliberale Hegemoniefraktionen“ die Politik offengehaltener Grenzen vor allem deswegen unterstützten, weil ein Szenario mit Kriegsrecht, Mauerbau und Getöten, wie 2021 an der Grenze zwischen Belarus und Polen, 2015 in Deutschland politisch schlicht nicht durchzusetzen war.

Sein starres Verständnis von sozialen Kräfte hindert ihn z.B. daran, zu sehen, dass das Merkelregime nicht nur bestimmte „progressiv-neoliberale Tendenzen“ bediente, sondern gleichzeitig auch massiv das Aufkommen sogenannter nationalchauvinistische Gruppen wie Pegida usw. und AfD förderte16. Für erstere wurde permanent von Seiten der Regierung und in Massenmedien um Verständnis geworben („Man müsse die Ängste der Menschen ernst nehmen“), während für die Ängste und Anliegen der bundesweit viel zahlreicheren Gegendemonstrant:innen niemand Verständnis aufbrachte. Und die sogenannte AfD, das sollte wir nicht vergessen, ist ja als rechtsoffenes Bündnis neoliberaler Ökonomieprofessoren, nationalistischer Unternehmer und rechter Christdemokraten ins Leben gerufen worden. Vertreter:innen aus beiden Gruppieren erlangten einen Großteil ihrer Popularität durch Auftritte in den öffentlich-rechtlichen Massenmedien, die heute als Lügenpresse denunziert werden, gemeinsam mit ihren „gegnerischen“ Brüdern und Schwestern des Politestablishments.

Laut Georgi wurden „rechts-neoliberale, national-konservative und völkisch-autoritäre Kräfte“ erst ab Herbst 2015 gestärkt: andauernde Mobilisierungen in sozialen Medien (und die öffentlich-rechtlichen?) und auf der Straße, die Anschläge von Paris im November 2015, die massiven sexistischen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln und Erfolge der AfD bei drei Landtagswahlen am 13. März 2016. „Dieser Druck von rechts beschleunigte den strategischen Umschwung moderatkonservativer, linksliberaler und sozialdemokratischer Kräfte und trug zur weitgehenden Schließung des Balkankorridors sowie zum Abschluss des EU-Türkei-Deals am 18. März 2016 bei“ (396).

Ziel sei es nun, „unerwünschte“ Migrations- und Fluchtbewegungen effektiv und repressiv zu blockieren, um so die Anwerbung abgestuft entrechteter und als „nützlich“ präsentierter Arbeitskräfte, politisch durch zu setzen. Er nennt das „Festungskapitalismus“.

Abschließend formuliert er fünf Forschungspraktische Schlussfolgerungen.

Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag von Charles Heller, Lorenzo Pezzani und Maurice Stierl, die nach einem Rekurs auf das umkämpfte Grenzregime im Mittelmeer drei verschiedene Konzepte von Bewegungsfreiheit diskutieren:

  • Open Border
  • No Border
  • Autonomie der Migration

Der „Open Border“-Ansatz plädiert für Reisefreiheit, weil Reisefreiheit zu sicheren Transportwegen, unkomplizierte Heimatreisen, weniger Kontrollen, weniger Sozialdumping und globaler Umverteilung führen würde. Er negiert aber keineswegs staatliche Souveränität und sieht weiterhin staatliche Kontrollen an Grenzübergängen vor, „beispielsweise zur Gefahrenabwehr oder um das Wissen und die Kontrolle darüber zu haben, wer und was in das Land kommt“ (410).

Im Gegensatz dazu lehnt der No-Border Ansatz17 Grenzen und staatliche Souveränität rundweg ab. Seine Wurzeln hat der Ansatz in einer Vielfalt sozialer Kämpfe. Er versteht die Forderung nach Abschaffung der Grenzen als Teil einer radikalen Kapitalismuskritik, weil sie die Grenze selber als historisches Produkt und Waffe des transnationalen Kapitalismus ansehen. Heller, Pezzani und Stierl kritisieren an dem Ansatz, dass No-border-Kämpfe die Grenze nicht „als ein Gemenge sozialer Beziehungen begreifen, die die aktive Subjektivität von Grenzgänger*innen ebenso mit einschließt wie die Blockadeabsicht von Grenzpolizei und anderen Grenzschutzagenturen“ (414).

Sie unterstellen, dass – indem die Grenze auf ein abgrenzbares Phänomen reduziert wird – bestimmte Aspekte aus dem Blick geraten:

  • die vielfältigen Technologien und Grenzmechanismen entlang der gesamten Migrationsrouten;
  • die unterschiedlichen Arten von Grenzen, die den gesamten sozialen Raum entlang der Hierarchielinien Klasse, race, kulturelle Unterschiede etc. durchziehen18.

Außerdem würde die Forderung nach der Abschaffung von Grenzen oder gar des gesamten Staates die Möglichkeiten komplexer und taktischer Kooperationen mit denjenigen einschränken, „die Institutionen, Politik und Rechte verändern können19“ (415)20.

Die Perspektive der Autonomie der Migration (AdM) bietet laut Heller, Pezzani und Stierl Lösungen für manche dieser Nachteile.

Während der „autonome Marxismus“ das Primat der Arbeiter*innenkämpfe in der Gestaltung der dynamischen Logik und des Vorgehens des Kapitals beanspruchte, geht die AdM von Bewegung beziehungsweise ihrer Einschränkung und den Kämpfen der Migration anstatt von Grenzen aus.

In Übereinstimmung mit dem No-border-Ansatz sieht AdM die Forderung nach Bewegungsfreiheit in migrantischen Praktiken begründet. Bewegungsfreiheit ist somit eine Freiheit, die vor allem von Migrant*innen in ihren täglichen Kämpfen gegen Grenzen und andere Beschränkungen erkämpft und durchgesetzt wird.

Dabei stelle sie

  • migrantische Alltagskämpfe um Mobilität und den Widerstand gegen unterschiedliche, die Bewegungsfreiheit beschränkende Instanzen und
  • konstruktive Zukunftsvisionen

und die Gleichzeitigkeit dieser zwei Momente ins Zentrum der Überlegungen („split temporality“ = „doppelte Zeitlichkeit“ Mezzadra).

Abschließend diskutieren die Autoren Antinomien21 der Bewegungsfreiheit:

  • das Recht auf Bewegungsfreiheit muss auch ein „Recht auf Immobilität“ einschließen und
  • die Abschaffung der Kontrolle über internationale Migrationsbewegungen wird nicht automatisch zum Verschwinden der sozialen Grenzen (z.B. bezüglich Arbeit, Wohnraum und soziale Rechten – aber auch Gender und Race, was nicht erwähnt wird) führen.
  • Die dritte Antinomie, die sie behandeln, betrifft die Beziehung zwischen „Staatsgrenzen“ und den „Grenzen der Demokratie“. Hier plädieren sie für ein „neues Rechts auf Freizügigkeit“, durchgesetzt durch eine „subalterne kosmopolitischen Legalität“ (Sousa Santos/ Rodriguez-Garavitos) mit einer Kombination von politischen Mobilisierungen sowie legalen und illegalen Strategien.

Abschließend plädieren sie dafür, die alltäglichen Kämpfe für Bewegungsfreiheit zum Bestandteil der Transformation hin zu einer gerechten Welt zu machen. Was sonst?

Auch wenn der Rezensent dem No-Border-Konzept näher steht als der AdM, halte ich den Aufsatz für sehr inspirierend, um die Vor- und Nachteile der genannten Ansätze ausgiebig zu diskutieren. Weil dieser Text gerade für die kritische Auseinandersetzung mit Anderson u.a. so wichtig ist, sind wir den Autor:innen und dem Verlag dankbar, dass sie uns den Text als exklusive Leseprobe für izindaba.info zur Verfügung gestellt haben: http://izindaba.info/uploads/media/Heller_ua_Argumente-Bewegungsfreiheit.pdf.

Kritik

Im wesentlichen beschreiben die Beiträge einzelne Facetten des Europäischen Grenzregimes. Es sind in der Regel spannende und interessante Geschichten. Diese Fokussierung bietet für Praktiker:innen, die mit den beschriebenen Phänomenen zu kämpfen haben, viele erhellende Einblicke. Für die allgemein interessierte Leser:in kann die Spezialisierung ein wenig ermüdend sein. Wer interessiert sich schon gleichzeitig für das griechische Abschiebesystem, Frontex, Ausbau digitaler Grenztechnologien? Dann einfach weiterblättern.

Wie die vorangegangenen Bände der Reihe Grenzregime präsentiert der vorliegenden Band eine Fülle von gut recherchierten und spannend zu lesenden Arbeiten über verschiedene Aspekte des Grenzregimes. Das sichere Navigieren im aktuellen Forschungsstand (und so die Fülle der Konzepte und Informationen für Praktiker:innen und andere Forschende handhabbar zu machen) sowie die Präsentation eigener empirischer Untersuchungen war schon immer ein Merkmal der Reihe.

Doch mit dem vorliegenden Band ist den Herausgeber:innen eine erhebliche Qualitätssteigerung gelungen.

Zu aller erst fällt die klare Gliederung der Bandes in vier Teile auf, die das Buch klar strukturieren (ein Manko bei den Bänden 1-3).

Die meisten Texte sind mehr oder weniger gleich lang und füllen +-20 Seiten, was das Lesevergnügen erhöht22.

Sicherlich werden die wenigsten, das Buch komplett durcharbeiten. So gibt es einige Texte, die ich unbedingt allen empfehlen möchte:

Das ist sicherlich zuerst das hervorragende Vorwort, welches eine sehr gute Einführung in das Thema und den Sammelband bietet.

Im ersten Teil sind die bewegende Schilderung der Initiative 19. Februar über die rassistischen Morde in Hanau und über behördliches Versagen, Kontinuitäten rechter Gewalt und der gemeinsame Kampf für Gerechtigkeit sowie das Gespräch mit Max Czollek und Çagrı Kahveci über antirassistische Kämpfe in der Gegenwartsbewältigung eine sehr gute Hinführung zum Thema (vergleichbare Texte fehlten in den Bänden I-III).

Im zweiten Teil ist der Text von Matthias Lehnert, Marei Pelzer und Maximilian Pichl über die Rechtskämpfe um das europäische Flüchtlingsrecht nach dem Sommer 2015 so etwas wie ein Grundlagentext. Immer wieder verweisen andere Texte im Buch auf ihn.

Und im letzten Teil bieten die Beiträge von Sabine Hess, Johanna Elle und Valeria Hänsel (Dangerous Men and Suffering Women? Entanglements and Articulations of Gender in the European Border Regime) und Charles Heller, Lorenzo Pezzani und Maurice Stierl (Argumente für eine Politik der Bewegungsfreiheit) wichtige Diskussionsanregungen für Wissenschaft und vor allem auch für die politische Praxis.

Auch die meisten anderen Texte sind von hoher Qualität, und leben, wie gesagt, von einem Wissen um die aktuellen Auseinandersetzungen, der umfassenden Kenntnis des aktuellen Forschungsstandes und den Ergebnissen eigener empirischer Forschung.

Allerdings gibt es auch drei negative Ausreißer:

Der positive Bezug von Farina Asche und Manuel Liebig auf das „Hegemonie-Konzept“ des Stalinisten Gramsci bringt wenig Interessantes über die „Veränderungen des musealen Kulturbetriebs in Wien durch den langen Sommer der Migration“. Warum dieses Konzept Eingang in den Band findet, in dem sich fast alle Beiträge mehr oder weniger auf die „Autonomie der Migration“ fokussieren, ist etwas rätselhaft.

Ebenfalls etwas ratlos machte mich der Beitrag von Nicholas De Genova „Spatial Convulsions, Racial Concussions: Die Grenzen und Begrenzungen des Europäischen Problems“. Der Erkenntnisgewinn ist gering, hier fragt sich der Rezensent, ob der Text nur wegen dem Namen des Autors aufgenommen wurde.

Wesentlich interessanter ist der Artikel von Fabian Georgi über die Grundlagen einer materialistischen Migrations- und Grenzregimeanalyse am Beispiel der EU-Migrationspolitik seit 2015. Aber traurigerweise arbeitet Georgi sich an alten marxistischen „Klassikern“ ab, die nach Meinung des Rezensenten wenig zu einer materialistischen Migrations- und Grenzregimeanalyse beizutragen haben.

Kritisch anzumerken bleibt, dass einerseits die Mehrdimensionalität von Grenzen im Mittelpunkt des Bandes stehen, andererseits die Grenzen auf ihren Abschottungscharakter reduziert werden23, anstatt die Funktion der Grenzen als „Sortiermaschinen“ (Mau)24 zu thematisieren. Auch bleiben Fragen der Ausbeutung und Inwertsetzung völlig unterbelichtet.

Vielleicht ist es dem geschuldet, dass sie sich zu sehr auf das von Yann Moulier Boutang popularisierte Konzept der „Autonomie der Migration“ focussieren25, ohne die wichtigen Einwände gegen diese Konzept angemessen zu berücksichtigen26. Das Beispiel des pakistanischen Migranten Bashir, welches Hänsel und Teunissen (171ff.) nutzen um ihr Konzept einer widerständigen „infrapolitics“ zu illustrieren, zeigt deutlich, dass Bashir zwar eigensinnig aber keineswegs autonom handelt.

Wie dem auch sei, das ist Gemecker auf hohem Niveau, denn insgesamt ist das Buch sehr zu empfehlen.

VON MORIA BIS HANAU – BRUTALISIERUNG UND WIDERSTAND; GRENZREGIME IV von Valeria Hänsel/ Karl Heyer/

Matthias Schmidt-Sembdner/ Nina Violetta Schwarz (Hg.); Assoziation A Berlin / Hamburg 2022;

1In der ersten Fußnote erklären die Herausgeber:innen: „Die Schreibweise >EUropäisch< und >EUropa< zielen auf die Sichtbarmachung des Umstands ab, dass die Europäische Union nicht mit Europa gleichzusetzen ist und umgekehrt. Weiterhin soll dadurch verdeutlicht werden, dass bei der Verwendung von EUropa nicht zwingend nur von EU-Institutionen die Rede ist“ (7).

2„Wenn wir sehen, dass sich die europäischen Staaten immer weiter entwickeln, ist dies das Ergebnis von so vielen Jahren des Leidens, der Zwangsarbeit aus kolonisierten Ländern. Also wenn Europa heute versucht, mit der so genannten ‚Migrationskrise‘ umzugehen, sollte es sein Gedächtnis auffrischen. Es sollte in seinen Archiven nachsehen, in den Texten und Erinnerungen, die durch seine Ideologien unsichtbar gemacht wurden, und die nun als soziales Phänomen zurückkehren. Die Regierungen des Westens haben nicht um Erlaubnis gefragt, als sie in unsere Länder kamen; warum sollten wir sie jetzt um Erlaubnis bitten?“

3 s. Fn 1

4Nekropolitik (Mbembe) ist kein direktes und aktives Töten, geht aber über ein bloßes Sterbenlassen hinaus (vgl. 17).

5„Refugee policy crisis“, svw. Krise des Migrationsmanagement, versteht sie im Gegensatz zu dem häufig verwendeten Begriff „Flüchtlingskrise“. Auch spricht sie von menschenrechtlichen Krisen in Europa.

6Die Genialität der subalternen Subjekte – der Nicht-Bewegungen – liegt gerade darin, solche Auswege zu entdecken oder zu erzeugen

7Svw. „rechtsfreie Orte“ in den Sinne, dass die Staatsgewalt hier nicht greift

8Die (unterschiedlichen) Funktionsweisen und Aufgaben von EGMR und EuGH werden als bekannt voraus gesetzt.)

9Die Entrechtung der als „nicht-eingereist“ Geltenden und die Verschiebung der Grenze werden von Lehnert u.a. aber nicht weiter thematisiert.

10Lehnert u.a. sprechen von „New Public Governance“

11Alle Zitate der englischen Texte wurden vom Rezensenten übersetzt

12Im Text ist der Begriff weder in Anführungszeichen gesetzt, noch wird er als „sogenannt“ in Frage gestellt

13Die Vereinnahmung und Entpolitisierunge ist also keine „Gefahr“ sondern Ziel

14Räumliche Verrenkungen, rassistische Gehirnerschütterungen

15Es sei mir erlaubt, hier an den ungemein inspirierenen Text von Foucault über die Gouvernementalität (dt. in: Bröckling u.a. (hg.); Gouvernementalität der Gegewart; Ffm 2000) zu verweisen, der gegen jede Starrheit die Widersprüchlichkeit von „Regieren“ hervorragend herausarbeit.

16Ganz abgesehen davon, dass bereits 2012 der Protofaschist und AfD-Förderer Hans-Georg Maaßen als Präsident des sogenannten Verfassungsschutz eingesetzt wurde

17Der wichtigste Text zum No Border-Ansatz auf deutsch: Anderson, Bridget/ Sharma, Nandita /Wright, Cynthia; „We are all foreigners!“; „No Borders“ als praktisches politisches Projekt ; http://izindaba.info/57.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=324&cHash=3658563344bb2a0fc42112599f0bcb48; 02.08.2018

18Eine Kritik, die der Rezensent nicht teilt.

19Wer immer das sein mag. Anderson u.a. betonen dagegen, dass No-Border-Kämpfe oft von breiten Bündnissen getragen werden, die weit ins gewerkschaftliche, kirchliche und reformistische Lager reichen.

20Während Open-Border-Forderungen bisweilen auch von Neoliberalen formuliert werden, sind No-Border-Positionen inkompatibel mit prokapitalistischen Ansätzen.

21scheinbar unauflösliche Widersprüche zwischen Begriffen

22Nur das Vorwort mit 27 Seiten und der letzte Text (31 S.), der bereits in englisch unter dem Titel „Toward a Politics of Freedom of Movement“ im Sammelband „Open Borders: In Defense of Free Movement“ ( herausgeben von Reece Jones 2019), veröffentlicht wurde, fallen leicht aus dem Rahmen

23„Die europäische Abschottungspolitik und die rassistische Gewalt in Europa wie auch an seinen Rändern, ist die Spitze des Eisbergs einer Haltung, die sich radikal gegen die Faktizität der Migration und die postmigrantische Gesellschaft der Vielen wendet“ (10)

24Mau, Steffen; Sortiermaschinen; Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert; München 2021. Siehe auch: Anderson, Bridget/ Sharma, Nandita /Wright, Cynthia; „We are all foreigners!“; „No Borders“ als praktisches politisches Projekt ; http://izindaba.info/57.0.html?&tx_ttnews%5Btt_news%5D=324&cHash=3658563344bb2a0fc42112599f0bcb48; 02.08.2018

25Moulier Boutang, Yann; Europa, Autonomie der Migration, Biopolitik; In: Pieper, Marianne/ Atzert, Thomas/ Karakayali, Serhat/ Tsianos, Vassilis (Hg.); Empire und die biopolitische Wende; Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri; Frankfurt am Main 2006, S. 169–180. Siehe auch: Interview mit Yann Moulier Boutang in: Strategien der Unterwerfung – Strategien der Befreiung; Materialien für einen neuen Antiimperialismus Nr. 5; Berlin 1993; S. 29-55

26Siehe z.B.: Benz, Martina / Schwenken, Helen: Jenseits von Autonomie und Kontrolle: Migration als eigensinnige Praxis; in: PROKLA-Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaften 2005/35 (140). 363–377