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Peter Birke: Grenzen aus Glas

Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland

Wenn es gute Arbeit wäre, würden die Deutschen hier arbeiten“ (ein Arbeiter aus der Fleischindustrie, S. 168)

Eines vorweg: dieses Buch zu lesen ist keine leichte Kost. Birke ist kein eloquenter Erzähler, sondern Sozialwissenschaftler. Die Berücksichtigung wissenschaftlicher Standards, das Einflechten zahlreicher theoretischer Ansätze, die vielen Anonymisierungen, das hin und her springen zwischen den Branchen und Betrieben lassen einen mitunter den Kopf schwirren und es bleibt mitunter schwierig, dem roten Faden zu folgen. Wer sich trotzdem durch das mit fast 400 Seiten doch recht voluminöse Buch arbeitet, wird allerdings belohnt mit einer Fülle von Informationen und Einsichten über die Arbeitsprozesse in der Fleischindustrie und bei Amazon sowie die alltäglichen kleineren und größeren Kämpfe.

Birke untersucht den Zusammenhang zwischen Arbeitsverhältnissen, Rassismus und Kämpfen der Migration in Betrieben, in denen jeweils eine deutliche Mehrheit der dort Arbeitenden keinen deutschen Pass haben und sehr viele der Arbeitenden in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind. Dazu hat er – im Rahmen einer größeren Studie des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen – Arbeitsprozesse und Arbeitskämpfe bei Amazon und in der Fleischindustrie von 2017 bis Mitte 2021 untersucht.

Das Buch lebt davon, dass Birke mit einem theoretisch und politisch klarem Kopf die Arbeitsbedingten aus der Perspektive der Ausgebeuteten darstellt. In den Interviews geht es um Arbeit, die hart ist, schlecht bezahlt und Körper und Seele schädigt. Um „Grenzen aus Glas“, schwer zu erkennen und oft schwer zu durchbrechen. Aber es geht auch um Widerstand, ankommen, weitermachen, für bessere Lebensbedingungen kämpfen, um Fragen nach der Logik betrieblicher sozialer Konflikte:

  • „Wie können Beschäftigte, die mit einer starken strukturellen Abhängigkeit von Lohnarbeit konfrontiert sind und zunächst wenig Erfahrung mit dem deutschen Rechtssystem haben, ihre eigenen Interessen wahren?
  • Was wird von ihnen selbst als gemeinsames Interesse verstanden?
  • Und welche Formen nimmt kollektives Handeln an – vom >Dienst nach Vorschrift< bis zum offenen Streik?“ (12)

Dabei argumentiert Birke auch gegen gängige Vorstellungen, dass Erwerbsarbeit unabhängig von ihrer konkreten Ausprägung zur gesellschaftlichen Teilhabe beitrage1 oder dass Migrant*innen, zumal im Niedriglohnsektor, „sich kaum wehren können“.

Das Buch besteht aus drei Inhaltlichen Schwerpunkten, gerahmt von einer Einleitung und eines abschließenden Resümees.

Im 1. Kapitel widmet sich Birke in drei Schritten den begrifflich theoretischen Voraussetzungen für eine Analyse des Zusammenhangs von Arbeit und Migration:

  • Die Bedeutung von Rassismus und migrantischer Arbeit für die Kapitalakkumulation:
    Das Kapital ist darauf angewiesen, immer neue verwertbare und in ihren Rechten beschnittene Arbeitskraft zu finden. Deren Prekarität beziehe sich aber nicht nur auf das Arbeitsverhältnis, sondern auch auf die Reproduktion. Birke spricht von „multipler Prekarität“ (44)2.
    Diese „multiple Prekarität“ stellt er in den Zusammenhang von Rassizifierung, „Whiteness“, segmentierte Arbeitsmärkte und die Vergemeinschaftung abgegrenzter Gruppen von Arbeitenden.
  • Die Wirklichkeit konkreter Arbeitsprozesse als sozial-ökonomisches Verhältnis und wichtiges Moment sozialer Herrschaft:
    Birke plädiert dafür sich der Realität betrieblicher Herrschaft durch die systematische Untersuchung konkreter Arbeitsprozesse und -konflikte zu nähern. Betriebliche Herrschaft versteht er als Übersetzung gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die durch segmentierte Arbeitsmärkte geprägt ist. „In unserer Gesellschaft gibt es mittlerweile viele Tätigkeiten, die fast ausschließlich von Migrant*innen erledigt werden (…) Man kann also heute nicht mehr allein von abgewerteten Tätigkeiten sprechen, sondern von ganzen abgewerteten Sektoren, Tätigkeitsfeldern und Beschäftigungsverhältnissen“ (50f.) Diese Beschäftigungsverhältnisse sind geprägt durch einen „digitalen Taylorismus“ und „Einfacharbeit“3
  • Die Bedeutung von Arbeitskämpfen:
    Für Birke sind Arbeitskämpfe der Fluchtpunkt des Buches: „Sie sind wie eine Art Lackmustest für gängige Begriffsbildungen der Arbeits- und Migrationssoziologie. Und was vielleicht noch wichtiger ist: sie sind potentiell zugleich Signifikanten des Zusammenhangs zwischen sozialen Kämpfen und gesellschaftlichen Wandel. Es ist also zu diskutieren, welche Veränderungsimpulse durch die beobachteten kleinen und großen Verweigerungen getragen werden“ (73). In diesem Rahmen thematisiert er die Verbindung von Arbeitskonflikten mit Konflikten auf anderen gesellschaftlichen Terrains, mit staatlicher Regulierung und mit gewerkschaftlich-institutioneller Einbindung.

Birke schließt das erste Kapitel mit einer Einführung in die konkreten Arbeits- und Migrationsverhältnisse bei Amazon und in der Fleischindustrie

Im zweiten Kapitel stellt Birke die Resultate der Untersuchung bei der Fleischindustrie und bei Amazon vor. Nach der Vorstellung einiger Biografien von Interviewten – die als Arbeiter*innen gesehen werden wollen („nicht als Flüchtlinge“ 121) – sowie der Perspektive der Forschenden folgt Birke einer fiktiven Chronologie: Anwerbung, der Weg zur Arbeit, der Arbeitsprozess, und die Auszahlung der Löhne und Gehälter.

Dabei kommen viele spannende Aspekte zum Vorschein, z.B., dass sowohl ein wilder Streik als auch Effizienz- und Kontrollprobleme zur Abschaffung der Werkverträge bei einem mittelgroßen Betrieb in der Fleischindustrie führte – und das bereits rund zwei Jahre vor der Durchsetzung des Arbeitsschutzkontrollgesetz (das Werkverträge in der Fleischindustrie seit Januar 2021 untersagt).

Die betrieblichen Kontrollsysteme (insbesondere auch durch ständiges „Feedback“) bleiben brüchig und unvollkommen. Die digitale Fabrikdespotie stößt offensichtlich an ähnliche Grenzen wie der klassische Taylorismus und funktioniert keineswegs so glatt, wie es auch in kritischen Berichten oft behauptet wird. Vorstellungen von Mengen und Zeiten bleiben ein ewiger Konflikt im Arbeitsalltag. Dabei sei „die Erosion des Bilds vom >perfekten Betrieb< ein wichtiger Ausgangspunkt für Wut, Protest und eventuell gewerkschaftlicher Organisierung“ (183).

Eine schöne Praxis ist z.B. im Amazon-Lager „eine Ware einfach in ein Fach zu packen, wo sie einfach untergebracht werden kann, und eine andere [die vorher dort lagerte, uMlungu], ohne neu einzuscannen, ins Nirgendwo zu verschieben, dorthin wo die Software sie niemals finden kann. Und auch niemand sonst“ (185).

Immer wieder kommt Birke auf das Thema „Flucht aus der Fabrik“ zu sprechen, einerseits als Form des Arbeiter*innen-Widerstands, andererseits als Resultat der gesundheitlichen Vernutzung. Der Kampf mit anderen Firmen um Arbeitskräfte nötige z.B. Amazon Löhne auszuzahlen, die deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn liegen. Aber solche Strategien der Mobilisierung von Produktions- und Arbeitsmarktmacht seien an spezifische Ressourcen gekoppelt (der richtige Pass, persönliche Mobilität, Qualifikation) und könnten durch Rationalisierungsprozesse, neue Managementstrategien oder auch gewerkschaftliche Ausgrenzungen unterlaufen werden.

Interessant ist auch der Abschnitt zur Industriereinigung, der „Nachtseite“ der Fleischindustrie: die Kombination von Zeitdruck, Nachtarbeit und mangelnde Einarbeitung macht diese Arbeit zu einer der gefährlichsten Tätigkeiten in den Schlachtbetrieben.

Im dritten Kapitel untersucht Birke die Veränderungen von Arbeits- und Migrationsverhältnissen durch die Corona-Politiken während der Pandemie. Beide Branchen waren von Masseninfektionen betroffen, aber nur in der Fleischindustrie kam es zu umfangreichen Reformen, während Amazon vom „Pandemie-Boom“ (Birke) profitierte.

Im ersten Quartal 2020 konnte noch von einem „Fleischindustrieboom“ gesprochen werden. Die größeren Betriebe steigerten ihren Umsatz auf Rekordhöhen. Während in vielen Branchen die Arbeiter*innen ihren Jobs verloren, steigerte sich die Arbeitsintensität in den Fleischfabriken, auch weil durch die Schließung der Grenzen der Nachschub an Arbeitskraft stockte. Trotz kontingentiertes Einfliegen von Arbeitskräften eskalierte die Situation, als es in den Fleischfabriken zu Masseninfektionen kam. Proteste der Arbeitenden befeuerten die Kritik an den Arbeitsbedingungen.

Medial sichtbar wurde aber vor allem eine bereits länger existierende „Kampagne für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie“ von Beratungsstellen, Gewerkschaften, Kirchen, Tier- und Umweltschützer*innen, die „auf der Grundlage einer Zuschreibung, die die Arbeitenden als verwundbar und nicht handlungsfähig kennzeichnete“ (270f.), auf eine „Rettung“ durch den Staat setzte. Dass der Staat der Konstrukteur migrantischer Prekarität und Vulnerabilität ist, wurde folglich genauso wenig thematisiert wie wichtige strukturelle Benachteiligungen durch staatliche Politiken, z.B. mangelnde Ansprüche auf Lohnersatzleistungen, die Wohnungsmarktsituation und die sozial- und Aufenthaltsrechtlichen Diskriminierungen. „So wurden einerseits Strukturelle Formen von Herrschaft… öffentlich beschwiegen, während die Frage nach dem Sinn des privaten Eigentums in der Produktion von Lebensmitteln vergleichsweise breit diskutiert werden“ (272).

Bei den folgenden Razzien wurde die Ambivalenz staatlichen Handelns mehr als deutlich: Während die verhängten Bußgelder den Unternehmen kaum weh taten, wurden die Arbeitenden ohne legalen Aufenthaltstitel, also jene die „besonders dreist ausgebeutet“ (278) werden, abgeschoben. Das Verbot der Werkverträge in der Fleischindustrie ab Januar 2021 führte zu massiven Veränderungen von Arbeitsbedingungen und Arbeitsteilungen, die sich über Jahre entwickelt hatten. Ein Ende der Prekarität bedeutet es nicht.

Es knüpft sich eine Diskussion um „Fluktuation der Arbeitenden als Form des Widerstandes gegen schlechte Arbeitsbedingungen“ (282) an. Die Möglichkeit solch einer Exit-Option hängt von verschiedenen Voraussetzungen ab wie Familiensituation, Position im Arbeitsprozess, Aufenthaltstitel, Gender. Sie ist also nicht von allen einfach zu realisieren. Während die Immobilen so wesentlich fester an den konkreten Betrieb gebunden sind (und sich folglich auch stärker mit dem Betrieb und seinen Zielen identifizieren) steht den Mobilen die ganze Welt offen. Dieser Widerspruch innerhalb der Arbeiter*innenklasse zieht sich durch das ganze Buch, wird aber leider nicht als Widerspruch und Interessengegensatz der Arbeitenden verhandelt. In der Gesamtbetrachtung scheint diese Spaltung für das Kapital der entscheidender Ansatzpunkt für die (immer nur partielle) Befriedung des betrieblichen Unmuts zu sein.

Für die Immobilen dagegen versuchen menschenrechtliche Organisationen punktuelle Verbesserungen zu erreichen, reproduzieren dabei aber die mit der Macht-Asymmetrie verbundene und aus vielen alltäglichen Niederlagen gespeiste tiefe Verletzung und Entwürdigung. Offen bleibt die Frage – die eine Arbeiterin dem Autor stellt – „was man denn machen könne, um etwas an der Ausbeutung in der Fleischindustrie zu verändern“ (287).

In den Verteilzentren es kam während der Pandemie weltweit von Anfang an zu Arbeitsniederlegungen oder kollektiven Absentismus, weil elementare Hygiene- und Abstandsregeln nicht eingehalten wurden. In Deutschland forderten Amazon-Beschäftigte Hygiene- und Schutzartikel, bezahlte Beurlaubungen von Risikogruppen und die bezahlte Freistellung wegen zusätzlicher Sorgeverpflichtungen auf Grund der Schul- und Kitaschließungen. Viele forderten auch „Schließung des Betriebs für zwei Wochen bei bestätigten Covid-19-Fällen“ oder gar die „Schließung bis zum Ende der Pandemie bei vollem Lohnausgleich“ (304). Allerdings zeigte sich, dass es nicht für alle gleich leicht war, sich der Arbeit zu entziehen. Festangestellte und Menschen mit sicherem Aufenthaltstitel waren im Vorteil.

Während Birke bei der Fleischindustrie den ambivalenten Charakter gewerkschaftlichen Handelns zumindest benennt, beklagt er, dass der Zugang von ver.di zum Arbeitsalltag und zu Alltagskonflikten bei Amazon trotz der mittlerweile fast zehn Jahre bestehenden Tarifkampagne begrenzt sei (308). Es gab kaum arbeitspolitischen Erfolge, wenig Aufwind für das gewerkschaftliche Selbstbewusstsein. Mit der dauernden Fluktuation der Arbeitenden scheint ver.di überfordert.

Das Buch bietet keine fertigen Antworten auf die anfangs gestellten Fragen nach gemeinsamen Artikulation und Wahrung der Interessen durch die Arbeitenden, nach Formen des Kollektiven Handelns und nach den Veränderungsimpulsen durch die kleinen und großen Verweigerungen – aber viele unterschiedliche Beispiele aus der Praxis.

So bleibt die Frage offen, wie kollektive Organisierung angesichts von sozialer Fragmentierung und der Erweiterung der Konflikte auf unterschiedliche Themen der „multiplen Prekarität“ gelingen kann. Denn Birke sieht „multiplen Prekarität“ als Voraussetzung für die Konstituierung unfreier Arbeit. „Kollektive Organisierung … muss die gesamten Lebensumstände verstehen und bearbeiten“ (363). Der wichtigste Ansatzpunkt ist sicherlich „die Abhängigkeit des Kapitals von der Arbeitskraft und ihrer spezifischen, subjektivierten Zurichtung“ (345).

Angesichts der Dysfunktionalität staatlicher Regulierung (im Interesse der Arbeiter*innen) ist Birke weit davon entfernt, auf staatliche Machtressourcen zu setzen. Die Rolle der Gewerkschaften als Teil der Regierung im Foucaultschen Sinne (53) bleibt bei ihm allerdings nebulös – wie im wirklichen Leben.

Peter Birke
Grenzen aus Glas
Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland
27.00 €
398 Seiten
Format: 13,5 x 21
englische Broschur
ISBN: 978385476-964-4
Erschienen: Jänner 2022
lieferbar

1Das Dilemma bestehe darin, dass es in unserer Gesellschaft unmöglich sei, ohne das Recht auf Arbeit (er schreibt nicht: „ohne Arbeit“) gesellschaftliche Teilhabe zu erlangen, während umgekehrt fehlende soziale Rechte (insbesondere auch das Recht auf Nicht-Arbeit, Exit) mögliche Verbesserungen von Arbeitsverhältnissen blockieren (35).

2An anderer Stelle spricht wer von dreifacher Prekarität: Beschäftigung, Wohnen, Aufenthalt (191f.)

3Zur Kritik an einer statischen Definition von „Einfacharbeit“ siehe S. 63. An anderer Stelle betont Birke den hohen Anteil hoch qualifizierter Migrant*innen, die im Niedriglohnbereich arbeiten (135)