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Ein Basisaktivist blickt auf ein Jahr Krieg im Sudan zurück

„Die kommende Hungersnot ist eine politische Entscheidung der Kriegsparteien“

Ein Jahr nach nach Beginn des verheerenden Kriegs, der Zehntausende von Menschen getötet und fast neun Millionen vertrieben hat, blüht im Sudan vor allem eines: selbstorganisierte solidarische Selbsthilfe.

Seit dem 15. April 2023 – als Milizen (sogenannte schnelle Eingreiftruppen – RSF) und die reguläre Armee begannen, sich gegenseitig zu bekämpfen – haben wir miterlebt, wie unsere Träume von einer demokratischen, wohlhabenden Nation zerstört wurden, und wir haben ein Jahr unerbittlicher Gräueltaten und Verluste erlebt.

Doch gleichzeitig sind Millionen von Sudanesen in den vom Krieg zerrütteten Gebieten geblieben, die von internationalen Hilfsorganisationen nicht erreicht werden können, und haben Wege gefunden, sich gegenseitig mit lokalen Ressourcen und Spenden aus der Diaspora zu unterstützen. Andere wie ich haben einen Weg gefunden, aus der Ferne zu helfen.

Gemeinsam haben wir selbstorganisierte Selbsthilfegruppen geschaffen, die sogenannten Emergency Response Rooms (ERRs), die Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und andere wichtige Dienste bereitstellen, während wir gleichzeitig Kooperationen aufbauen, Finanzmittel beschaffen und uns um die Anerkennung als humanitäre Helfer an vorderster Front bemühen.

Die Gespräche und die Zusammenarbeit mit der UN-Koordinierungsstelle für humanitäre Hilfe (OCHA), USAID und ECHO haben zu einer verstärkten finanziellen Unterstützung und Förderung der selbstorganisierten Selbsthilfestrukturen im Sudan geführt. Die Entkolonialisierung der humanitären Hilfe scheint voranzukommen.

Dennoch haben viele internationale Hilfsorganisationen Schwierigkeiten, ihre internen Systeme so umzustellen, um mit den selbstorganisierten Selbsthilfestrukturen effektiv umzugehen. Denn diese stellen die Rechenschaftspflicht gegenüber der Gemeinschaft über die traditionellen NRO-Berichtsmethoden.

Die ERRs verfügen noch immer nicht über die Mittel, die wir zur Erfüllung unserer wichtigen Aufgabe benötigen. Und unsere Mitglieder sind nach wie vor willkürlichen Verhaftungen durch die Konfliktparteien ausgesetzt, wobei jede Seite uns beschuldigt, für die jeweils andere Seite zu arbeiten bzw. zu spionieren.

Auch die Anerkennung unserer Arbeit bleibt ein Problem. So trafen sich beispielsweise letzte Woche Diplomat:innen und humanitäre Gruppen in Paris zu einer Konferenz, um dringend benötigte Mittel für die humanitäre Krise aufzutreiben. Raten Sie mal, wer nicht eingeladen war? Die ERRs.

Sechs Forderungen der selbstorganisierten sudanesischen Selbsthilfegruppen

  • Unterstützung von Gruppen statt individueller Hilfe:
    Anstelle von individueller Bargeldhilfe sollen Gemeinschaftsküchen und Frauenkooperativen finanziert werden.
  • Schnelle Beschaffung ausreichender Finanzmittel:
    Wir müssen alle zusammenarbeiten, um auf die drohende Hungersnot zu reagieren, und unsere Geber müssen erkennen, dass Untätigkeit das eigentliche Risiko ist.
  • Geben Sie uns 5 % der Mittel für humanitäre Hilfe:
    Die ERRs sind für die Bereitstellung humanitärer Soforthilfe von entscheidender Bedeutung – sie brauchen mehr Unterstützung und direkte Finanzierung.
  • Anerkennung von Freiwilligen als Mitarbeiter der humanitären Hilfe:
    Setzen Sie sich dafür ein und fordern Sie Schutz für unsere Mitarbeiter:innen.
  • Finanzierung flexibel halten:
    Unsere Geber sollten anerkennen, dass sich die Situation vor Ort permanent ändert und unvorhersehbare Situationen auftreten. Sie sollten bürokratische Hürden abbauen und anerkennen, dass wir beweglich bleiben müssen.
  • Dabei geht es nicht nur um den Zugang:
    Sie sollten die Bedeutung der gegenseitigen Hilfe gerade auch dann anerkennen, wenn der Zugang vor Ort für NGOs und UN-Organisationen schwierig ist.

Ein Jahr nach Beginn dieses verheerenden Krieges steuert der Sudan auf eine Hungersnot zu, die Millionen von Menschen treffen könnte – und dennoch scheint die Welt die Augen zu verschließen, als ob nichts getan werden könnte.

Die internationale Gemeinschaft muss alle im Sudan tätigen Hilfsorganisationen uneingeschränkt unterstützen und gleichzeitig den sudanesischen Generälen die Erlaubnis entziehen, Zivilisten zu töten und mit unserem Leben Politik zu machen.

In der Zwischenzeit fordern wir als Selbsthilfeorganisationen eine schnellere und flexiblere Finanzierung ohne bürokratische Hürden, einen größeren Anteil an den Hilfsausgaben und die Anerkennung, dass wir Entwicklungshelfer und langfristige Partner sind und nicht nur eine Notlösung für NRO, die mit Zugangsschwierigkeiten zu kämpfen haben.

Wie die Notaufnahmen funktionieren

Die ERRs wurden mit demselben Geist und derselben Basisorganisation aufgebaut, die das Regime von Omar al-Bashir stürzte, der eine der berüchtigtsten Diktaturen der Welt führte und sich 30 Jahre lang an der Macht im Sudan hielt.

Die Arbeit der ERR basiert auf den Konzepten der Solidarwirtschaft, auf lokalen Parlamenten und auf den vier Säulen der guten Regierungsführung: Rechenschaftspflicht, Transparenz, Beteiligung und Gleichberechtigung.

Die ERR im Bundesstaat Khartum – einem von 18 Bundesstaaten im Sudan und Sitz der Hauptstadt – betreibt derzeit 335 Gemeinschaftsküchen, über 40 Krankenstationen, mehr als 75 Frauenkooperativen und prüft die Einrichtung alternativer Bildungsangebote in Kinderzentren.

Die ERRs im Bundesstaat Khartum – einer von 18 Bundesstaaten und Sitz der Hauptstadt – ist in sieben lokale Distrikte unterteilt. Eine Charta, die die Rolle einer Verfassung spielt, wurde verfasst und von einer gesetzgebenden Körperschaft verabschiedet, die sich aus drei Vertreter:innen aus jedem Bezirk zusammensetzt, wobei mindestens eine der drei eine Frau ist.

Es wurde eine Exekutive eingerichtet, die Arbeitsausschüsse für Programmplanung, Finanzen, Berichterstattung und externe Kommunikation umfasst. Außerdem gibt es Büros für Gesundheit, Ernährung, Schutz, Frauenreaktionsräume, Kapazitätsaufbau, Datenerfassung und Medien.

Nachdem die Erfahrungen und die Struktur an die ERRs in anderen Staaten exportiert wurden, wurde ein Koordinierungsrat eingerichtet. Diesem Rat gehören die ERRs aus den verschiedenen Bundesstaaten sowie lokale NROs und internationale NRO-Partner an.

Der Koordinierungsrat ist zu einem der wichtigsten Gremien geworden, die von den ERRs geschaffen wurden. Er ähnelt einem nationalen Parlament, das Gespräche über ein Kriegsgebiet hinweg erleichtert und gleichzeitig schwierige Diskussionen über den Aufbau des Zusammenlebens nach dem Krieg einleitet.

Wie sich die ERRs entwickelt haben, zeigt das Beispiel von Algiraif in Khartoum. Freiwillige Helfer haben dort in einer Schule eine Gemeinschaftsküche eingerichtet, die seit dem 12. Juni 2023 täglich Essen liefert. Heute sind sie für fünf Kinderzentren, 22 Küchen, 19 Frauenkooperativen und zwei Gesundheitszentren verantwortlich.

Die Schule verfügt heute über eine Bibliothek, eine Kunstgalerie, einen Raum für Sportveranstaltungen und einen Salatgarten, in dem die Kinder in der Landwirtschaft unterrichtet werden. Außerdem wurde ein Entspannungsraum für Frauen eingerichtet, in dem u. a. geschlechtsspezifische Gewalt thematisiert wird.

Die neu gegründeten Frauenkooperativen bestehen aus kleinen Gruppen von 8-15 Frauen, die sich zusammenschließen, um Geldmittel zu beschaffen. Sie führen dann entweder psychosoziale Aktivitäten oder kleine einkommensschaffende Projekte durch.

Ähnliche Kooperativen gibt es inzwischen im ganzen Bundesstaat Khartum und im gesamten Sudan.

Die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind

All dies mitten im Krieg zu organisieren, war nicht einfach. Wir haben Freiwillige durch Bombenangriffe, Kreuzfeuer und gezielte Schießereien verloren. Einige unserer Mitglieder wurden verhaftet. Und eine Frau wurde vergewaltigt, nachdem sie festgenommen worden war, als sie den Bedarf in ihrem Gebiet ermittelte.

Unsere Tränen sind noch nicht getrocknet, denn wir trauern um Omar Munour, einen der fleißigsten Mitarbeiter:innen der Küchen in Bahri, einer Nachbarstadt von Khartum. Er starb Anfang des Monats an Komplikationen, die durch das Trinken von schmutzigem Wasser und fehlende Medikamente verursacht wurden.

In letzter Zeit habe ich regelmäßig mit Freiwilligen telefoniert, z.B. mit Abdo. Während er redete, fielen um ihn herum Schüsse. Er erzählte uns, dass er wegen der Belagerung nur alle zwei Tage eine halbe Mahlzeit zu sich nehmen konnte.

Das ERR von Abdo, das sich im Viertel Fatihab in Omdurman befindet, war während der Belagerung an nächtlichen Evakuierungsaktionen beteiligt, bei denen Zehntausende von Zivilist:innen in andere Staaten gebracht wurden.

Bei einem anderen Treffen, das nach dem Ende der Belagerung stattfand, erzählte mir Abdo, wie gut eine Tomate schmeckt. Es sind kurze Momente der Erleichterung, die den Menschen helfen, diesen Krieg zu überstehen.

In den letzten Wochen ist es für die ERR noch schwieriger geworden, denn die Kriegsparteien haben eine Kommunikationssperre verhängt und kappen absichtlich die Internetverbindung in Gebieten, in denen ihre Gegner aktiv sind.

Der Stromausfall hat Auswirkungen auf das Online-Banking, überlebensnotwendig für Millionen von Menschen, darunter auch die Freiwilligen der ERR. Denn sie können kein Bargeld verwenden: entweder gibt es keins, oder zu groß ist die Gefahr von Plünderungen und auch wegen der weiten Verbreitung von Falschgeld.

Die Stromausfälle stellen Millionen von Sudanesen vor große Probleme. Sie sind auf Trinkwasser aus dem Nil oder aus Brunnen angewiesen, doch der Strom, der zum Hochpumpen des Wassers benötigt wird, ist knapp.

Die Zahl der Menschen, die im ganzen Land extremen Hunger leiden, steigt ebenso wie die Zahl der Bilder von Kindern, die vom Hunger betroffen sind. Es steht zu befürchten, dass Millionen von Menschen einer der schlimmsten Hungersnöte der jüngeren Geschichte ausgesetzt sein werden.

Diese bevorstehende Hungersnot ist eine politische Entscheidung der Kriegsparteien, aber eine Katastrophe größeren Ausmaßes wird nur möglich sein, wenn die internationale Gemeinschaft sich mitschuldig macht, indem sie es versäumt, alle humanitären Akteure vor Ort rasch zu finanzieren und zu unterstützen.

Finanzierung, Partnerschaften und Anerkennung

Damit wir als ERR unseren Beitrag zur Verhinderung dieser Hungersnot leisten können, brauchen wir mehr Mittel von internationalen humanitären Gebern, und die uns zugesagten Gelder müssen schneller überwiesen werden.

Durch unsere Erfolge haben die Menschen die Stärke von Selbsthilfestrukturen kennen gelernt. Wir haben eine Punkt erreicht, an dem wir niemandem mehr beweisen müssen, dass wir in der Lage sind, diese Arbeit zu leisten.

Aber auch ein Jahr nach Beginn des Krieges werden wir immer noch nicht zu Konferenzen wie der in Paris eingeladen. Die Organisatoren hielten es für zu schwierig, eine so große Gruppe wie uns einzuladen, aber das zeigt, dass das Hilfssystem immer noch keinen Platz für Selbsthilfestrukturen an vorderster Front hat.

Es ist auch verblüffend, wie viel Legitimität noch den Kriegsparteien zugestanden wird. Die Diplomaten haben zugelassen, dass der humanitäre Zugang Verhandlungsmasse wird. Und sie schauen auf die kämpfenden Gruppen, um den Krieg zu beenden, anstatt auf uns zu hören.

Gleichzeitig sind den Möglichkeiten der ERRs Grenzen gesetzt. Die Selbsthilfestrukturen können zum Beispiel nicht den Betrieb der Wasserstationen aufrechterhalten, die teure Chemikalien benötigen, um das Wasser sauber zu halten.

Um zu verhindern, dass die durch diesen Krieg verursachte humanitäre Katastrophe noch schlimmer wird, sind Partnerschaften zwischen lokalen Initiativen wie den ERRs, lokalen NROs, internationalen NROs, den verschiedenen UN-Organisationen und sogar den Regierungen der Kriegsparteien erforderlich.

Doch was auch immer in den kommenden Tagen geschieht, ich bin sicher, dass Hunderte von Freiwilligen jeden Morgen aufwachen werden, um zu kochen, zu heilen und ihre Gemeinden zu unterstützen. Wir hoffen, dass Sie sich mit uns solidarisch zeigen.

Haajo Kuka ist externer Sprecher der Emergency Response Rooms (ERRs) im Bundesstaat Khartum, Sudan.

Quelle: The New Humanitarian 22 April 2024

https://www.thenewhumanitarian.org/opinion/first-person/2024/04/22/mutual-aid-volunteer-reflects-year-war-sudan

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