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Tunesien: Angst um gestrandete Migrant_innen, denn die Spannungen steigen

Die EU bietet dem wirtschaftlich schwer angeschlagene Tunesien Finanzhilfen in Höhe von bis zu 900 Millionen Euro. Als Gegenleistung verlangt sie ein schärferes Vorgehen gegen Geflüchtete. Das passt gut zu dem zunehmend rassistischen Diskurs in dem Nordafrikanischen Land, der vor allem vom Präsidenten angeheizt wird, aber von Teilen der Bevölkerung aufgegriffen wird.

Im folgenden veröffentlichen wir einen Artikel von Alessandra Bajec darüber, wie sich die Situation für Subsaharische Menschen in Tunesien in den letzten Monaten dramatisch verändert hat.

Einen weiteren Artikel von Bernard Schmid über die Hintergründe und Widersprüche der Entwicklung haben wir von Labournet.de geklaut.

Wir sind nicht mehr sicher. Sie wollen nicht, dass wir hier sind und arbeiten.

Alessandra Bajec, freiberufliche Journalistin, Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika

SFAX, Tunesien – Fremdenfeindlichkeit und Frustration in Tunesiens Migrationszentrum Sfax gegenüber schwarzafrikanischen Asylbewerber_innen und Migrant_innen sind in Gewalt umgeschlagen und haben dazu geführt, dass Hunderte von Geflüchteten oder Vertriebenen in einer abgelegenen, militarisierten Zone an der libyschen Grenze ohne jegliche Versorgung gestrandet sind.

Die seit Monaten zunehmenden Spannungen in der Küstenstadt, die zu einem wichtigen Sammelpunkt für Menschen geworden ist, die versuchen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, kochten letzte Woche über.

Am 3. Juli warnte der ehemalige stellvertretende Bürgermeister Mohamed Wajdi Aydi, dass die Lage in der Stadt unhaltbar werde. „Ich befürchte, dass es zu sehr ernsten Konfrontationen kommen wird, die wir nicht verhindern können“, sagte Aydi gegenüber The New Humanitarian.

Später am selben Tag wurde ein tunesischer Mann bei Zusammenstößen zwischen Einwohner_innen von Sfax und Asylbewerber_innen und Migrant_innen erstochen. Die Zusammenstöße dauerten bereits mehrere Tage an, wobei die Polizei Tränengas einsetzte, um die Auseinandersetzungen zu beenden.

Drei Männer aus Kamerun wurden wegen des Mordes festgenommen. Die Beerdigung des Mannes wurde dann zu einer Demonstration, bei der die Teilnehmer_innen dazu aufriefen, den Tod zu rächen. In der Folge griffen Gruppen von Menschen überall in der Stadt Asylbewerber_innen und Migrant_innen an.

Videos zeigten, wie die Polizei Asylbewerber_innen und Migrant_innen in ihren Häusern festhielt und in Polizeiautos steckte. Hunderte wurden über die tunesischen Grenzen nach Libyen und Algerien abgeschoben, wo sie im Niemandsland ohne Nahrung, Wasser oder Unterkunft zurückgelassen wurden.

Menschenrechtsorganisationen, die mit den nach Algerien abgeschobenen Menschen in Kontakt standen, haben inzwischen den Kontakt zu der Gruppe verloren, während andere, die nach Libyen abgeschoben wurden, Berichten zufolge in der abgelegenen militarisierten Zone ohne Hilfe unter einem Baum Zuflucht suchten. Der tunesische Rote Halbmond gab an, am 8. und 9. Juli etwa 630 Migrant_innen und Asylbewerber_innen aufgenommen und untergebracht zu haben. Nichtregierungsorganisationen befürchten aber, dass noch viele weitere Personen vermisst werden.

Sfax ist mit rund 300.000 Einwohnern nach der Hauptstadt Tunis die zweitgrößte Stadt Tunesiens und ein wirtschaftlicher Motor des Landes. In diesem Jahr hat sich die Stadt auch zu einem wichtigen Umschlagplatz für Asylbewerber_innen und Migrant_innen entwickelt, die hoffen, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, da die tunesische Wirtschaft stottert, die politische Repression zunimmt und die Feindseligkeit und Gewalt gegenüber schwarzafrikanischen Asylbewerber_innen und Migrant_innen steigt.

Einige Tunesier_innen machen sie für die wirtschaftliche Misere Tunesiens verantwortlich und beschuldigen sie, Straftaten zu begehen. In einer Rede im Februar, die weithin als rassistisch verurteilt wurde, griff der tunesische Präsident Kais Saied diese Rhetorik auf und löste damit Angriffe gegen Schwarzafrikaner_innen aus, die dazu führten, dass viele von ihnen ihren Arbeitsplatz verloren und aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Nachdem er nach den Ausweisungen der letzten Woche in die Kritik geraten war, bestritt Saied, dass seine Regierung Schwarzafrikaner misshandle, und beschuldigte Menschenschmuggler, Tunesien destabilisieren zu wollen.

Auf nationaler Ebene bestand bereits Verweigerungshaltung im Umgang mit der Migration. Seit Saied im Januar den Gouverneur von Sfax ohne Angabe von Gründen entlies und im März den Stadtrat aufgelöste besteht auch auf lokaler Ebene ein Mangel an Orientierung, so Aydi. „Im Moment herrscht ein Vakuum“, sagte er.

Sie wollen nicht, dass wir hier sind“.

Als The New Humanitarian Mitte Juni Sfax besuchte, war die Atmosphäre bereits angespannt. Im Viertel Bab Jebli versammelten sich Gruppen von Schwarzafrikaner_innen auf einer Esplanade außerhalb der alten Stadtmauern.

Tunesische Händler_innen verkauften an Ständen Fisch und Kleidung. Asylbewerber_innen und Migrant_innen hatten in der gleichen Gegend ebenfalls Stände aufgebaut, wurden aber Ende Mai nach einer Schlägerei mit Anwohner_innen von der Polizei vertrieben und errichteten auf der anderen Straßenseite in der Nähe eines gehobenen Wohnblocks einen neuen Markt.

Der Streifen Land, auf dem sich der neue Markt befand – übersät mit Müllsäcken, Plastikflaschen und anderem Abfall – beherbergte etwa 15 Stände, an denen Dutzende von Frauen aus Burkina Faso, Côte d’Ivoire, Guinea, Mali, Senegal und anderen Ländern Gewürze, Soßen, Eier, Tee, gekochtes Fleisch, Gesichtscremes und Haarpflegeprodukte verkauften. Die Waren waren auf niedrigen, kleinen Tischen ausgestellt, und der Geruch von gekochtem Eintopf erfüllte die Luft. Am Rande des Marktes grillten ein paar Leute Fisch.

Hinter den Ständen, die Gewürze verkauften, befanden sich Friseur_innen, die sich auf afrikanische Zöpfe spezialisiert hatten. Benedicte, eine 28-jährige Ivorerin, beobachtet, wie eine von ihnen einer Kundin die Haare stylt. Sie kommt oft auf den Markt, um den Friseur_innen zu helfen.

„Ich habe nach Arbeit gesucht, aber es ist so schwierig. Wir kommen hier gerade so über die Runden“, sagte Benedicte und schätzte, dass jede Friseur_in zwei bis drei Kund_innen pro Tag für eine Frisur bekommt, die etwa 50 tunesische Dinar (16 US-Dollar) kostet.

Wie viele andere Westafrikaner_innen zog Benedicte zunächst mit ihrem Mann nach Tunis, um zu studieren. Sie schloss ihre Ausbildung als Krankenschwester ab und arbeitete eine Zeit lang in einer Klinik. Doch das ist nun fast zwei Jahre her.

Als sich die wirtschaftlichen Bedingungen verschlechterten und die Feindseligkeit gegenüber Schwarzafrikaner_innen zunahm, kam das Paar nach Sfax und versuchte, über das Meer nach Europa zu gelangen. Ende März gingen sie an Bord eines Bootes, das jedoch kenterte. Benedicte überlebte. Ihr Mann kam auf dem Meer ums Leben – wie Hunderte anderer Menschen, die in diesem Jahr bei dem Versuch der Überfahrt ums Leben gekommen sind.

„Ich war auf der Suche nach einer besseren Gelegenheit, aber jetzt sitze ich hier mit nichts fest“, sagte Benedicte.

Seitdem kümmert sich eine ivorische Kollegin um sie. Sie verbringt die Zeit in der Wohnung ihrer Freundin oder trifft sich mit anderen Freundinnen in der Nachbarschaft. Das Leben sei für afrikanische Asylbewerber_innen und Migrant_innen schwieriger geworden, da die Polizei sie oft verfolge und Anwohner_innen versuchten, sie zum Verlassen des Marktviertels zu zwingen.

„Wir sind nicht mehr sicher. Sie wollen nicht, dass wir hier sind und arbeiten“, sagte Benedicte. „Ich werde noch einmal versuchen, Europa zu erreichen, aber wenn ich wieder scheitere, werde ich in mein Land zurückkehren.“

Es gibt eine Lücke in dieser Frage“.

Offiziell sind in Tunesien rund 21.000 Asylbewerber und Migranten aus afrikanischen Ländern außerhalb Nordafrikas registriert, doch die tatsächliche Zahl ist nach Angaben des tunesischen Forums für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES) wahrscheinlich höher.

Aydi, der ehemalige stellvertretende Bürgermeister von Sfax, der von 2012 bis 2017 und von 2018 bis 2023 im Amt war, beobachtete den Anstieg der Ankünfte über die Jahre und schätzt, dass sich derzeit rund 25.000 Migrant_innen in der Stadt aufhalten – hauptsächlich aus west- und zentralafrikanischen Ländern wie Burkina Faso, Kamerun, Côte d’Ivoire, Guinea, Mali, Mauretanien und Niger.

Die meisten von ihnen fliegen zum Flughafen von Tunis. Andere werden von der tunesischen Küstenwache – die von der EU unterstützt wird – nach ihrer Abreise aus Libyen auf dem Weg nach Europa gerettet oder abgefangen, oder sie überqueren die tunesischen Landgrenzen von Libyen oder Algerien aus.

Traditionell stellen Tunesier_innen den Löwenanteil der Menschen, die von den Küsten ihres Landes aus nach Europa aufbrechen, wobei die Zahl der versuchten Überfahrten im Laufe der Jahre schwankte. Doch dieses Verhältnis hat sich in diesem Jahr verschoben, da sich die Bedingungen für Schwarzafrikaner_innen in Tunesien verschlechtert haben und sich das Land als Ausreiseziel herumgesprochen hat.

In nur sechs Monaten sind fast 38 000 Menschen nach ihrer Ausreise aus Tunesien in Italien angekommen. Tausende weitere wurden von der tunesischen Küstenwache abgefangen oder aus dem Meer gerettet. Allein in diesem Jahr sind mehr als 1 700 Menschen bei dem Versuch der Überfahrt von Tunesien und Libyen aus gestorben.

Aydi kritisierte das „Fehlen einer nationalen Strategie“, um die Migration auf humane Weise zu bewältigen. „Dieser Mangel an Visionen hat die Situation sowohl für die Migrant_innen als auch für die lokale Bevölkerung verkompliziert“, sagte er.

Die italienische Insel Lampedusa ist weniger als 200 Kilometer von der Küste von Sfax entfernt. Und Schwarzafrikaner_innen können in der Stadt genug verdienen um zum Überleben, obwohl die meisten Jobs im informellen Sektor angesiedelt sind und sie weniger als den üblichen Lohn erhalten. Denn die Lebenshaltungskosten in der Stadt sind relativ niedrig, so Hamida Chaieb, eine Anwältin in Sfax und Mitglied der Tunesischen Liga für Menschenrechte (LTDH).

„Migranten_innen können ein wenig Geld verdienen, bis sie ihre Ersparnisse aufstocken und die Überfahrt nach Europa bezahlen können“, erklärte Franck Yotedje, Leiter der tunesischen Migrantenrechtsgruppe Association Afrique Intelligence, gegenüber The New Humanitarian.

Die Männer arbeiten in der Regel in der Landwirtschaft, auf dem Bau, in Cafés und Restaurants, während die Frauen meist als Hausmädchen und Kindermädchen beschäftigt sind und einen Lohn von 20 bis 25 tunesischen Dinar (6,50 bis 8 US-Dollar) pro Tag erhalten.

Die Überfahrt auf einem Boot nach Italien kann laut Chaieb zwischen 4.000 und 7.000 Tunesische Dinar (1.300-2.300 $) kosten. „Die Migranten in _innen in Sfax befinden sich in einer irregulären Situation, so dass sie jede Arbeit annehmen, nur um das nötige Geld zu bekommen und ihre Abreise zu planen“, sagte er.

‚Ich fühle mich nicht mehr sicher‘

Die Auswirkungen der jüngsten Gewalttaten in Sfax und die Folgen für die Migration in Tunesien und im Mittelmeerraum bleiben abzuwarten. Aber schon vor der Eskalation war klar, dass die Situation unhaltbar geworden war.

Als The New Humanitarian die Stadt besuchte, saß Hassan Doumbia, ein 29-Jähriger aus Côte d’Ivoire, der aus Sicherheitsgründen um ein Pseudonym bat, mit einer Gruppe anderer Männer auf dem behelfsmäßigen Markt. Er hatte in Tunesien als Kunsthandwerker gearbeitet, war aber arbeitslos, seit er kurz nach der Februarrede des Präsidenten von seinem Chef entlassen wurde.

„Seit der Rede von Saied fühle ich mich nicht mehr sicher und habe Mühe, Arbeit zu finden“, sagte er.

Doumbia floh 2019 aus Côte d’Ivoire, nachdem er wegen seiner Opposition gegen die Regierung Morddrohungen erhalten hatte, und schloss sich seinem älteren Bruder an, der bereits in Sfax lebte. Ursprünglich hatte er geplant, sich in Tunesien niederzulassen. „Damals fühlte ich mich bei den Tunesiern wohl“, sagte er.

Aber jetzt sei er regelmäßig Schikanen von Tunesier_innen ausgesetzt und könne nicht genug Geld verdienen, um die Miete für das Haus zu zahlen, das er mit seiner Frau, seinem Bruder und seiner Schwägerin teilt. „Tunesien ist normalerweise ein gastfreundliches Land, aber jetzt verstehe ich nicht mehr, was hier passiert“, fügte Doumbia hinzu.

„Anfangs kam ich, um mich einzuleben, aber in letzter Zeit denke ich darüber nach, wegzugehen“, fuhr er fort. „Ich bin bereit, das Risiko einzugehen, nach Italien zu gehen, anstatt hier zu bleiben und gedemütigt oder angegriffen zu werden.

Bearbeitet von Tom Brady und Eric Reidy.

https://www.thenewhumanitarian.org/news-feature/2023/07/13/fears-stranded-black-african-migrants-tensions-boil-over-tunisia